Hamburg. Polizeieinsatz beim Derby gefährde das aufgebaute Vertrauen, sagt der Experte. Präsident Göttlich: Gewalt ist nicht hinnehmbar.

Selbstverständlich habe er die Bilder und Videos aus Hamburg gesehen, sagt Professor Harald Lange: „Ich war entsetzt und erschrocken.“ Der Sport- und Sozialwissenschaftler von der Universität Würzburg ist einer der führenden Forscher über Fußball- und Fankultur und -verhalten in Deutschland und kann die Vorfälle rund um das Hamburger Derby zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV am vergangenen Freitagabend deshalb recht gut einordnen.

„Die Hamburger Polizei hat sich offenbar anders verhalten, als es ihre Kollegen in Nordrhein-Westfalen beim ebenso brisanten Derby zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 vor vier Wochen getan haben“, stellte Lange fest.

Größere Auseinandersetzungen zwischen den strikt getrennten Fanlagern hatte es da nicht gegeben, die Polizei begleitete zwar, musste aber nicht aktiv mit „Zwangsmaßnahmen“ eingreifen, wie es jetzt vor dem Millerntor-Stadion geschehen ist. „Man muss die Einsatztaktik der Polizei in Hamburg kritisch hinterfragen“, sagte Lange dem Abendblatt.

Derby-Vorwurf: Will Polizei gegen Fans eskalieren?

Diese Aufarbeitung hat mittlerweile begonnen. „Die Polizei teilte dem FC St. Pauli mit, es werde geprüft, inwieweit die Verhältnismäßigkeit bei dem Einsatz gewährleistet gewesen sei“, heißt es in einer Stellungnahme des Vereins vom Montag, in dem dieser gleichzeitig auch auf die Kritik an der schlechten Einlasssituation für die Gästefans einging. „Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie es verhältnismäßig sein kann, auf den Kopf einer am Boden liegenden Person zu schlagen.“

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Eine deutliche Verurteilung des polizeilichen Vorgehens vermied der Verein zunächst und kassierte dafür massive Kritik seiner Fans. „Wann nennt ihr Polizeigewalt mal beim Namen?“, fragte User „Mag nus1910“ per Twitter, „bloß nicht Grote verärgern, oder was ist euer Auftrag?“

Die „Braun-Weiße Hilfe“, der vom Hamburger Fanprojekt getragene Rechtshilfeverein für St.-Pauli-Fans, die im Zusammenhang mit Fußball Probleme mit Justiz oder Polizei haben, ist da in ihrer Stellungnahme sehr viel deutlicher. „Die Vorfälle zeigen, dass die Einsatzleitung der Hamburger Polizei am Spieltag entweder weiterhin eskalativ gegenüber Fußballfans vorgehen möchte oder aber die eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten nicht unter Kontrolle hat“, heißt es. „Ausmaß und Qualität der Gewalt waren erschreckend. Die eingesetzten Techniken waren professionell, das Vorgehen rabiat.“

Hooligan-Zahlen sind rückläufig

Die Braun-Weiße Hilfe und das Fanprojekt laden für eine weitere Aufklärung am Donnerstag um 18 Uhr Betroffene zu einer Sprechstunde in die Räume des Fanprojekts unter der Gegengerade ein, um Verletzungen zu dokumentieren und Gedächtnisprotokolle entgegenzunehmen, die ein genaueres Bild vom Umfang der Auseinandersetzungen liefern können.

Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Braun-Weißen Hilfe möchten als Einzelpersonen nicht in der Öffentlichkeit auftreten. Es sind „mittelalte“ Menschen aus der Fanszene, die unverdächtig sind, selbst als Gewalttäter aktiv zu sein. Sie haben in den vergangenen Monaten seit der Einsetzung eines neuen Leiters des zuständigen PK 16 zum Januar 2021 jedoch ein deutlich härteres Vorgehen der Polizei gegen Fußballfans festgestellt: „Die Hamburger Polizei tritt unverhältnismäßig eskalativ rund um das Millerntor auf.“

Laut Professor Lange sind die Zahlen der gewaltbereiten Fußballfans seit Jahren dagegen rückläufig, „klassische Hooligans haben wir längst nicht mehr“. Das heißt nicht, dass es keine lokalen Gruppen gäbe, die immer wieder mal für auch gewalttätigen Ärger sorgten. Im Umfeld des FC St. Pauli ist das aktuell offenbar die Gruppe „Rotsport“, die den HSV-Fanmarsch attackiert haben soll. Deren „aktionsorientierter“ Ausrichtung, wie es euphemistisch heißt, kritisieren intern auch die St.-Pauli-Ultras.

Gedenktafel beim HSV für toten Fan

HSV- und Werder-Fans legten Kränze an die Adrian-Maleika-Gedenkstätte.
HSV- und Werder-Fans legten Kränze an die Adrian-Maleika-Gedenkstätte. © WITTERS | TimGroothuis

Als vor 40 Jahren der Bremer Adrian Maleika auf dem Weg ins Hamburger Volksparkstadion nach einem brutalen Überfall von HSV-Fans ums Leben kam, waren „Vereine und Polizei auf das Thema Gewalt unter Fans nicht vorbereitet“, sagt Lange. Das hat sich nach dem Tod Maleikas geändert. Am Montag weihte der HSV 40 Jahre nach der Tragödie eine Gedenktafel für den 16-Jährigen ein, auch als Zeichen gegen jede Gewalt.

Noch wichtiger als Symbole war die verstärkte Sozialarbeit in Fanprojekten, die in den Clubs und Städten seitdem betreiben. „Man muss klar festhalten, dass es heute vergleichsweise wenige Ausschreitungen oder Gewalttaten gibt“, sagt Lange, „vor allem wenn man es in Relation zu den deutlich gestiegenen Zuschauerzahlen setzt.“

Damit diese Arbeit erfolgreich bleibt, braucht es weiter eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten: „Fans, Clubführung und die Polizei müssen an einem Strang ziehen“, weiß Lange und warnt: „Es gibt die Chance, dass das Vertrauen in die Polizei zunichtegemacht wird, wenn sie so unsensibel vorgeht. Deshalb ist es jetzt ganz wichtig, dass es eine gute und genaue Aufarbeitung und entsprechende Konsequenzen gibt.“

Am Montagabend legte der FC St. Pauli mit einer weiteren Stellungnahme nach. Darin heißt es: Das Präsidium des FC St. Pauli ist entsetzt und schockiert über die Vorfälle und fordert Konsequenzen. Es sei nicht hinnehmbar, sagt Präsident Oke Göttlich, dass die Polizei so vorgehe.