Hamburg. Einmaliger Vorgang nach Eklat bei St. Paulis Spiel in Bielefeld. Warum die Bundespolizei mit einer Stellungnahme zögert.
Es ist ein Vorgang, der höchst ungewöhnlich, in dieser Form womöglich sogar bisher einmalig ist. Der FC St. Pauli hat Strafanzeige gegen die Polizei gestellt – genauer gesagt gegen die polizeiliche Einsatzleitung, die am 4. November vergangenen Jahres in Bielefeld für das Vorgehen gegen Anhänger des FC St. Pauli, die in einem Zug zum Zweitliga-Auswärtsspiel bei Arminia Bielefeld angereist waren, verantwortlich war. Auf Nachfrage des Abendblatts bei der Polizei in Bielefeld war für den Einsatz die Bundespolizei mit Sitz in St. Augustin zuständig.
Konkret geht es bei der Strafanzeige gegen die Polizei insbesondere um die Einkesselung von rund 250 St.-Pauli-Fans am Bahnhof in Bielefeld über mehrere Stunden sowie den massiven Einsatz von Pfefferspray durch Polizisten in einem voll besetzten Zug von Osnabrück nach Bielefeld, bei dem sich die Fenster nicht öffnen ließen.
St. Pauli erkennt keine Rechtsgrundlage
„Für die Vereinsführung hat sich das Bild ergeben, dass die Einsatzleitung der Polizei ohne rechtliche Grundlage rund 250 St.-Pauli-Fans mehrere Stunden im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme am Bielefelder Bahnhof eingekesselt hat. Auch Personen, die im ersten ,Kessel‘ bereits kontrolliert worden waren und ihre Personalien angegeben haben, wurden anschließend erneut eingekesselt und ohne Angabe von Gründen daran gehindert, das Spiel der Kiezkicker zu besuchen. Sie wurden bis 19 Uhr im ,Kessel‘ festgehalten und konnten erst dann die Rückreise nach Hamburg antreten. Es war für die Verantwortlichen des FC St. Pauli nicht ersichtlich, dass die Maßnahmen durch eine Rechtsgrundlage gedeckt waren“, heißt es in der Pressemitteilung, die der FC St. Pauli am Mittwoch veröffentlichte.
Unter Federführung von Vizepräsidentin Christiane Hollander beauftragte der FC St. Pauli die an der Budapester Straße ansässige Anwaltskanzlei 49, die Ereignisse vom 4. November 2018 juristisch zu prüfen und die Frage zu klären, ob das Vorgehen der Polizei rechtswidrig war. Die Rechtsanwälte Daniela Hödl und Martin Klingner fertigten ein Gutachten an. Dieses 21 Seiten starke eng beschriebene Werk basiert vor allem auf mehr als 80 Gedächtnisprotokollen von Betroffenen.
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St. Paulis Präsident Oke Göttlich sagte jetzt zur Begründung der Strafanzeige: „Für uns liegt hier ein klarer strafrechtlich relevanter Verstoß durch die Einsatzleitung der Polizei vor, den wir so nicht akzeptieren können. Mit der Maßnahme wollen wir auch gemeinsam mit dem Fanladen ein klares Zeichen für Fußballfans setzen, die bei Auswärtsfahrten durch polizeiliche Maßnahmen ohne ersichtlichen Grund daran gehindert werden, ihre Mannschaft zu unterstützen. Dennoch wollen wir unsere Fans ermutigen, weiter so zahlreich auswärts mitzufahren wie bisher.“
"Pfefferspray wahllos in die Menge gesprüht"
In den Gedächtnisprotokollen schildern die betroffenen Anhänger sehr detailliert den massiven Pfefferspray-Einsatz der in Osnabrück zugestiegenen Polizisten in dem Regionalzug, in dem sich Anhänger des FC St. Pauli, des Gegners Arminia Bielefeld und weitere Reisende befanden, die nicht zum Spiel der beiden Teams fuhren.
In einem der Protokolle heißt es beispielhaft: „Auf einmal wurde ohne Vorwarnung Pfefferspray eingesetzt sowie die Schlagstöcke. Im weiteren Verlauf sah ich nur, wie immer wieder Pfefferspray in dem geschlossenen Zug wahllos in die Menge gesprüht wurde. Nicht nur Fußballfans bekamen etwas davon ab, sondern auch die normalen Reisenden, darunter auch Kinder.“
Die Bundespolizei hatte am Tag des Spiels von „gezielten Provokationen“ im Zug gesprochen. Als die begleitenden Beamten die Personalien eines Fans überprüfen wollten, hätten sich alle Mitreisenden solidarisiert und die Polizisten körperlich und mit PVC-Stangen attackiert. In Bielefeld seien dann die Fans aufgehalten worden, um die Täter zu identifizieren. Es seien 18 Strafverfahren wegen Landfriedensbruch sowie wegen Körperverletzung und Beleidigung eingeleitet worden. Zudem wurden Vermummungsmaterial, Zahnschutz, Quarzhandschuhe sowie weitere PVC-Stangen zunächst sichergestellt.
St. Pauli sind zehn Verfahren bekannt
Bis heute sind laut Gutachten dem Fanladen des FC St. Pauli nur Ermittlungsverfahren gegen zehn Personen bekannt, davon zwei wegen des Vorwurfs des Landfriedensbruchs, des Widerstands und tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte und versuchter gefährlicher Körperverletzung.
In dem anwaltlichen Gutachten wird sowohl die Dauer der Einkesselungen von bis zu sechseinhalb Stunden angeprangert sowie der Umstand, dass die Personen im ersten „Kessel“ keine Toiletten aufsuchen durften. „Menschen zu zwingen, ungeschützt im Freien ihre Notdurft zu verrichten, ist schon unter dem Aspekt der Achtung der Menschenwürde rechtswidrig“, heißt es dort.
Auf Nachfragen nach einer aktuellen Bewertung des Einsatzes sowie der rechtlichen Grundlage sagte am Mittwoch ein Sprecher der Bundespolizei: „Da uns der Wortlaut der Anzeige noch nicht vorliegt, möchten wir dazu auch noch keine Stellungnahme abgeben.“