Hamburg. 2009 verlor der HSV gegen Werder Bremen alles und zog Konsequenzen. Nun droht dem Club eine neue Demütigung. Mit ähnlichen Folgen?
Marcell Jansen will noch nicht an den kommenden Freitag denken. Und auch nicht an das mögliche Szenario, das vielen HSV-Fans bereits seit Wochen im Kopf herumschwirrt. Der HSV-Präsident verweist vielmehr auf die theoretische Chance: So könnten die Hamburger durch einen Sieg bei Eintracht Braunschweig an diesem Sonnabend (13 Uhr/Sky und Liveticker auf abendblatt.de) und einer Niederlage von Fortuna Düsseldorf bei Schalke 04 durch einen Dreier im Stadtderby gegen den FC St. Pauli am kommenden Freitag wieder nach Punkten mit den drittplatzierten Düsseldorfern gleichziehen, sollte die Fortuna im Parallelspiel gegen Nürnberg verlieren.
Werder-Wochen haben festen Platz in deutscher Fußball-Geschichte
Viel Theorie, viel Konjunktiv. In der Realität, das weiß auch Jansen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass St. Pauli am kommenden Freitag mit einem Derbysieg im Volksparkstadion den Aufstieg in die Bundesliga perfekt macht, während der Klassenverbleib des HSV dann vermutlich endgültig feststehen würde. Es wäre – und darin sind sich alle einig – das größtmögliche Trauma seit Mai 2009. Damals war es der Nordrivale Werder Bremen, der die Hamburger demütigte und innerhalb von 19 Tagen im DFB-Pokal, im Uefa-Cup sowie in der Bundesliga besiegte. Gleich zweimal feierte Werder im Volksparkstadion den Einzug in ein Endspiel, während in Hamburg alle Titelträume platzten. Zum 15. Mal jähren sich nun die sogenannten Werder-Wochen, die einen festen Platz in der deutschen Fußballgeschichte bekommen sollten.
„Es war eine verrückte Situation. Man muss sie aber richtig einordnen“, sagt HSV-Präsident Jansen 15 Jahre später im Gespräch mit dem Abendblatt. Eine erneute Demütigung im Volkspark, diesmal durch den Lokalrivalen St. Pauli, hätte eine andere Tragweite. 2009 hat der HSV noch europäisch gespielt. „Es war ein Trauma auf hohem Niveau“, sagt Jansen über die Werder-Wochen von 2009.
HSV-Präsident Jansen erinnert sich an Werder-Wochen
Am Ende der Saison schafften es die Hamburger durch ein Last-minute-Tor von Piotr Trochowski bei Eintracht Frankfurt noch in die umbenannte Europa League, in der der HSV wieder die Vorschlussrunde erreichte, dann aber beim FC Fulham ein neues Trauma erlebte. Der HSV vergab durch die Niederlage in London die einmalige Möglichkeit, ein europäisches Finale im eigenen Stadion zu spielen. Trotzdem sagt Jansen rückblickend: „Wir waren zwei Jahre in Folge im Halbfinale dieses Wettbewerbs auf europäischer Ebene. Von daher kann man die Situationen nur schwer miteinander vergleichen, weil es damals einer der höchsten sportlichen Wettbewerbe war.“
Der Ex-Nationalspieler erinnert sich dennoch nur ungern an die Wochen gegen Werder. Vor allem nicht an das erste Duell, als der HSV am 22. April im Volksparkstadion das DFB-Pokal-Halbfinale im Elfmeterschießen verlor. Werder-Torwart Tim Wiese parierte vor der Nordtribüne gleich drei Elfmeter, den entscheidenden von Jansen. Anschließend legte Wiese über den Hamburger Rasen einen 100-Meter-Jubelsprint hin bis zur Gästekurve. Es war der Anfang allen Übels. „Im DFB-Pokal haben wir damals kein gutes Spiel gemacht, da war Werder der verdiente Sieger“, sagt Jansen über den ersten Akt.
Ex-HSV-Spieler Jansen: Werder hatte Dusel
Acht Tage später (30. April) gewann der HSV das Hinspiel im Uefa-Pokal-Halbfinale in Bremen durch Trochowskis Kopfballtor mit 1:0 und verschaffte sich eine glänzende Ausgangslage. Als Ivica Olic dann im Rückspiel eine Woche später die Führung erzielte, waren die Hamburger ihrem Finaltraum ganz nah.
Doch das nächste Drama nahm seinen Lauf. Eine Papierkugel auf dem Rasen machte aus Michael Gravgaards Rückpass einen Eckball. Frank Baumann traf zum 3:1. Wieder jubelte Werder im Volkspark, während der HSV sein wohl größtes Trauma der Vereinsgeschichte erlebte. Jansen erinnert sich: „Im Uefa-Pokal waren wir in beiden Spielen die bessere Mannschaft und hätten das Finale verdient gehabt. Werder hatte viel Dusel, nicht nur wegen der Papierkugel.“
Auf die Werder-Wochen folgte ein Machtkampf beim HSV
Als die Bremer den Hamburgern dann wenige Tage später (10. Mai) in der Bundesliga auch noch die Qualifikation zur Champions League zunichtemachten, war der HSV-Albtraum perfekt. Und die Verantwortlichen im Volkspark begingen in einer emotionalen Ausnahmesituation einen Fehler, der heute als Anfang des Hamburger Niedergangs gilt.
Das über Jahre erfolgreiche Führungsduo um Vorstandschef Bernd Hoffmann und Sportvorstand Dietmar Beiersdorfer geriet in einen internen Machtkampf, an dessen Ende Beiersdorfer den HSV verließ. „Der Hauptgrund für die Eskalation war, dass bei allen Beteiligten nach den Werder-Wochen die Nerven blank lagen: bei Trainer Martin Jol, bei Didi und bei mir“, sagte Hoffmann acht Jahre später dem Abendblatt. Am Ende setzte sich Hoffmann durch, Beiersdorfer ging und die Suche nach einem geeigneten Nachfolger wurde über Jahre hinweg zu einer Farce.
„Vielleicht hätte es auch gereicht, wenn wir einfach mal einen Kurzurlaub gemacht hätten. Haben wir aber nicht. Mit einem tauglichen Paartherapeuten wären wir heute wahrscheinlich noch immer gemeinsam im Amt“, sagte Hoffmann später, als der HSV im jahrelangen Abstiegskampf steckte.
Trifft der HSV erneut eine emotionale Entscheidung?
Weitere sieben Jahre später befinden sich die Hamburger in einem jahrelangen Aufstiegskampf, dessen Happy End auch in dieser Saison ausbleiben dürfte. Dabei hat es der HSV in den vergangenen Spielzeiten seit dem Abstieg 2018 auf alle möglichen Arten versucht. Auch Hoffmann schaffte es nach seiner Rückkehr in den Vorstand nicht, den HSV wieder in die Bundesliga zu führen. Stattdessen geriet er wieder in einen Machtkampf, den er diesmal gegen die Vorstände Frank Wettstein und Jonas Boldt verlor und Ende März 2020 freigestellt wurde.
Was passiert nun vier Jahre später mit Boldt? Auch diesmal könnten es die Emotionen sein, die für eine Entscheidung über die Zukunft des Sportvorstands sorgen. Sollte der HSV das Stadtderby verlieren und der Kiezclub gleichzeitig im Volkspark den Aufstieg feiern, wäre das für den HSV eine noch größere Erniedrigung als die Werder-Wochen vor 15 Jahren. Dann dürfte es für Boldt schwer werden, im Aufsichtsrat noch einmal das Vertrauen für einen Neustart zu erhalten.
Mit den Erfahrungen von 2009 wäre der Club allerdings gut beraten, diese Entscheidung eben nicht aus der Emotion
heraus herbeizuführen. Das müsste auch Marcell Jansen noch wissen, der zwar seit Januar nicht mehr im Aufsichtsrat sitzt, als Präsident des Vereins aber immer noch ein Wörtchen mitredet, wenn es um die Zukunft des HSV geht.
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In jedem Fall deutet sich an, dass zeitnah eine Entscheidung getroffen wird, die die Entwicklung des HSV auf Jahre beeinflussen könnte. Wie diese Entscheidung ausfällt, hängt wohl nur noch davon ab, wie schmerzhaft das Trauma 15 Jahre nach den Werder-Wochen wirklich wird.