Hamburg. Trainerwechsel beim Zweitligisten ist nicht nur verpufft, sondern hat die Hamburger ungefährlicher gemacht. Ein Wert ist besonders dramatisch.
- Der HSV ist seit dem Trainerwechsel schwächer geworden
- Das zeigen Daten, die dem Hamburger Abendblatt exklusiv vorliegen
- Die Dokumente offenbaren zudem: Ein Wert ist besonders dramatisch
Am Mittwoch drehte sich im Volksparkstadion alles um die richtige Technik: Kommunikation, ein funktionierendes Zusammenspiel und intelligente Lösungen für komplexe Probleme waren gefragt. Insgesamt neun Stunden lang wurde intensiv miteinander gesprochen.
Also doch neue Hoffnung für den HSV? Eine spektakuläre Krisensitzung, die das Wunder Bundesligaaufstieg trotz sechs Punkten Rückstands auf Platz drei noch Wirklichkeit werden lässt? Nein. Denn bei der Technikmesse „innovation/z“, die sich für einen Tag im Volksparkstadion eingemietet hatte, beschäftigten sich die Besucher nicht mit Fußball, sondern mit Kühlschränken, Waschmaschinen, und Smart-Home-Geräten.
HSV News: Baumgarts Taktik sorgt für Offensivprobleme
Ob Steffen Baumgart im Anschluss ans Training auch noch für einen neuen Thermomix auf der Messe vorbeigeschaut hat, ist nicht überliefert, aber doch eher unwahrscheinlich. Denn der HSV-Coach hat mit einem bisherigen Punkteschnitt von 1,38 Zählern pro Partie zurzeit ganz andere Probleme. Unter Vorgänger Tim Walter hatten die Hamburger noch im Schnitt 1,76 Zähler pro Spiel geholt.
Und auch darüber hinaus belegen die Daten, die das Fußballanalyse-Unternehmen „ballorientiert“ dem Abendblatt bereitgestellt hat, dass der Trainerwechsel bisher nicht funktioniert hat. Nicht nur die schlechtere Punkteausbeute, sondern auch die Expected Points (erwartete Punkte) zeigen eine Verschlechterung der HSV-Spiele unter Baumgart (1,62) im Vergleich zu Walter (1,76).
Bis zur Trennung von Walter hatten die Hamburger noch einen Expected-Goals-Wert von 2,03 (tatsächlich erzielt 2,05) – in den acht Spielen unter Baumgart betrug der Wert dieses statistischen Modells, bei dem ein Algorithmus die pro Spiel zu erwartenden Tore errechnet, nur noch 1,71 (tatsächlich 1,25).
Deutlich weniger Großchancen pro Spiel
Besonders dramatisch ist der Rückgang bei den Großchancen pro Spiel. Während sich der HSV unter Walter pro Spiel noch 2,1 dieser extrem guten Gelegenheiten herausspielen konnte (Ligabestwert), sind es unter Baumgart nur noch 1,0 (unter Ligaschnitt). Dies liegt unter anderem daran, dass die Hamburger weniger Pässe hinter die gegnerische Abwehr spielen (Baumgart 1,1/Walter 1,5), weniger Abschlüsse nach Eins-gegen-eins-Situationen haben (Baumgart 1,1/Walter 1,9) und viele Chancen nicht gut vorbereitet sind, der Gegner so inzwischen 5,4 Schüsse pro Spiel blocken kann (4,2 unter Walter).
Walter war bei seiner Freistellung zum Verhängnis geworden, dass der HSV defensiv mit ihm zu wacklig agierte. Mit Baumgart sollte die Abwehr stabiler stehen – ist sie dummerweise bisher aber kaum, wie der Wert der erwarteten Gegentore (Expected Goals against) pro Spiel (Baumgart 1,57/Walter 1,59) zeigt. Die tatsächlich unter Baumgart (1,1 pro Spiel) und Walter (1,48) kassierten Gegentore haben immer auch mit dem Vermögen und Unvermögen der Gegner zu tun.
Baumgarts Pressing birgt auch Risiken
Zwar verteidigt die Hamburger Abwehrkette unter Baumgart durchschnittlich fünf Meter höher als noch unter Walter, weshalb der Gegner zu weniger Aktionen im Strafraum kommt (Baumgart 15/Walter 19). Funktioniert Baumgarts Pressing aber nicht, entstehen für den Gegner große Räume, weshalb sich der HSV weiterhin zu viele Gegentore fängt. Zudem stieg die Torwahrscheinlichkeit pro gegnerischem Abschluss nach dem Trainerwechsel von 12,8 auf 15,9 Prozent.
„Wir können uns nicht davor verstecken, dass die Ideen der Trainer zu unterschiedlich sind“, sagte Innenverteidiger Sebastian Schonlau am Mittwoch. „Jeder einzelne Spieler trägt die Verantwortung.“
Schonlau gefällt der neue Spielaufbau
Obwohl Schonlau damit die Mannschaft in die Pflicht nahm, weiß auch der Kapitän, dass die Probleme im Offensivspiel zugenommen haben. Während Walter seine Innenverteidiger im Spielaufbau häufig in den Sechserraum einrücken und die Sechser dafür an die Seitenlinie abkippen ließ, lässt Baumgart in einem deutlich statischeren System mit drei Verteidigern und zwei Sechsern aufbauen. Insbesondere am vergangenen Wochenende gegen Holstein Kiel (0:1) fehlten dem HSV so die spielerischen Lösungen, stattdessen schlugen die Verteidiger viele lange Bälle.
„Durch das extreme Spielen und Gehen hatten wir uns noch die eine oder andere Option mehr geschaffen“, sagte Schonlau. „Durch den 3-2-Aufbau haben wir jetzt aber andere Möglichkeiten, können auch mal Steil-Klatsch über den Sechser spielen.“ Zudem habe man jetzt bei Ballverlusten eine deutlich bessere Grundordnung.
HSV hat deutlich mehr Ballverluste als noch unter Walter
Diese Absicherung ist auch nötig, weil der HSV bei Baumgarts vertikalem Spielansatz durch das Zentrum deutlich häufiger den Ball verliert (durchschnittlich 14 zusätzliche Ballverluste im Vergleich zu Walter). Mit diesem risikofreudigeren Ansatz dringen die Hamburger zwar deutlich öfter ins letzte Drittel des Spielfelds ein (Ballaktionen dort stiegen von 174 auf 195 pro Spiel), haben dann aber zu wenig Lösungen parat. So sank die durchschnittliche Torwahrscheinlichkeit pro Abschluss von 13,4 Prozent auf 10,7 Prozent, unter anderem da die Spieler häufiger aus der Distanz den Abschluss suchen.
„Es ist klar, dass wir nicht vor Selbstvertrauen strotzen. Da spürt man eine Verunsicherung. Das ist aber auch völlig menschlich und normal, wenn man nicht zu den Torchancen kommt und das letzte Glück auf seiner Seite hat“, sagte Schonlau. Auch Baumgarts Pressingfußball, der die gegnerische Abwehrkette schon im Spielaufbau unter Druck setzen soll, zahlt sich bisher noch nicht aus. So ist der HSV noch ohne Tor nach Balleroberung oder Konter (unter Walter noch acht Kontertore). Hinzu kommt, dass das Baumgart-Team zwar mehr Flanken schlägt, diese aber zu unpräzise kommen. Unter Walter traf der HSV noch in jedem zweiten Spiel nach Flanken, unter Baumgart gab es bisher nur ein einziges Flankentor.
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In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass Topstürmer Robert Glatzel unter Baumgart mit muskulären Problemen im Oberschenkel dreimal in Folge von Andras Nemeth in der Startelf vertreten werden musste. Doch auch Glatzel selbst, der seit dem 3. März auf einen Treffer wartet, ist oft falsch positioniert.
„Jetzt kann keiner mehr erzählen, dass er eine überragende Saison gespielt hat. Natürlich kann man Laci (Topscorer Laszlo Benes, d. Red.) nehmen, der rein von den Statistiken richtig gut performt hat. Alle anderen, aber natürlich auch Laci, haben Grund, sich zu hinterfragen“, wurde Schonlau deutlich. Diese Erkenntnis kommt aber wohl etwas zu spät.