Hamburg. HSV-Trainer zeigt Lerneffekt im Derby. Ein Kernproblem bleibt jedoch, auch wenn Walter widerspricht. Was Boldt bemängelt und schätzt.

Wenn Tim Walter am Montag um 13 Uhr zum Training bittet, erwartet die Mannschaft schwierige Bodenverhältnisse bei frösteligen null Grad im weiß bedeckten Volkspark. Seinen Spielern dürften die Bedingungen allerdings nur wenig ausmachen, im Derby am vergangenen Freitag auf St. Pauli (2:2) schien die im zweiten Durchgang zunehmende Schneemenge den HSV sogar zu beflügeln.

„Wir haben vielleicht dadurch angefangen, intensiver und aggressiver zu arbeiten“, räumte Walter ein, der sich nach dem Spiel schlagfertig präsentierte. „Möglicherweise war der Schnee für uns nützlich, auch wenn dieser in die Berge und nicht nach Hamburg gehört.“

HSV-Trainer Walter: ein kleiner Gewinner

Hoch hinaus soll es am Saisonende allerdings auch für die Hamburger gehen. Nach nur vier Punkten aus den zurückliegenden drei Ligaspielen ist das obere Tabellendrittel passend zu den aktuellen Temperaturen kuschlig eng zusammengerückt. Neuer Dritter ist nun der HSV, der einen Platz zurückgefallen ist und nur noch einen Punkt Vorsprung auf den Tabellenfünften Greuther Fürth hat.

Und dennoch dürfen sich der Club und Walter als kleine Sieger dieses Spieltags fühlen. Denn beim Punktgewinn gegen den mit 72 Punkten aus 32 Spielen in diesem Jahr so famos aufspielenden Spitzenreiter vom Kiez ging einiges auf, das in den Verantwortungsbereich des Trainers fällt.

Wie Walter auf St. Paulis Stärke reagierte

In der Vergangenheit ist Walter oftmals vorgeworfen worden, stur an seinem Plan festzuhalten und diesen zu wenig an die Stärken des Gegners oder die Schwächen der eigenen Spieler anzupassen. Am Millerntor bewies der HSV-Coach jedoch bereits bei seiner Aufstellung den Mut, den er auch von seiner Mannschaft einfordert. So vertraute Walter dem in der Liga bislang nur als Joker eingesetzten Lukasz Poreba, um das Mittelfeldzentrum zu stabilisieren.

Eine Maßnahme, die in der Theorie gleich zwei Vorteile mit sich brachte: zum einen war die Restverteidigung dadurch besser auf Ballverluste vorbereitet, wodurch Risikospieler Immanuel Pherai die nötigen Freiheiten für sein Spiel erhielt. Zum anderen sorgte Poreba im Verbund mit Jonas Meffert für mehr Kompaktheit gegen St. Paulis zentrale Schlüsselspieler Jackson Irvine und Marcel Hartel, über die jeder Angriff lief.

Walters Lösungen zur zweiten Derby-Hälfte

Als die erste Halbzeit offenbarte, dass Theorie und Praxis manchmal eben doch auseinander liegen, reagierte Walter und brachte Flügelstürmer Jean-Luc Dompé, um Pherai ins Zentrum zu beordern, wo sich der Niederländer deutlich wohler fühlt, wie er selbst bestätigte. Der eigentlich solide Poreba, der mit einer guten Passquote von 85 Prozent sowie starken Zweikampfwerten (75 Prozent) überzeugte, fiel dieser taktischen und letztlich spielentscheidenden Umstellung zum Opfer.

„Es geht immer um Lösungen und die haben wir anscheinend gefunden“, sagte Walter, der seiner Mannschaft erst in der zweiten Halbzeit den notwendigen „Derbymodus“ attestierte. „Wir haben die Flügelspieler auf die breiten Innenverteidiger des Gegners geschickt. Die daraus resultierenden Balleroberungen führten zu unseren Toren.“

Die Tabellenspitze der 2. Bundesliga
1. FC St. Pauli 19 / 35:16 / 39
2. Kiel 18 / 34:25 / 35
3. HSV 18 / 35:22 / 34
4. Fürth 18 / 28:20 / 32
5. Düsseldorf 19 / 40:25 / 31
6. Hannover 19 / 35:25 / 28
7. Paderborn 19 / 28:29 / 28

HSV-Problem? Walter widerspricht Glatzel

Nach dem Ausgleich war ein weiterer Lerneffekt bei der Mannschaft und dem Trainerteam zu beobachten. Anders als in Kaiserslautern (3:3) oder Kiel (2:4), als der HSV ebenfalls einen Zwei-Tore-Rückstand aufgeholt und anschließend große Lücken in der Defensive offenbart hatte, verzichteten die Hamburger diesmal auf eine wilde Positionierung. „Wir haben aus unseren Fehlern gelernt“, gestand der Taktik-affine Meffert. „In Kiel und Kaiserslautern hatten wir alles oder nichts gespielt. Heute haben wir schlauer agiert, das fand ich auch richtig so.“

Und dennoch muss sich der HSV fragen, warum er es in fremden Stadien nicht schafft, seine zweifellos vorhandene Qualität konstant abzurufen. Das Derby war bereits das dritte Auswärtsspiel in Folge, in dem der Club erst mit zwei Toren zurücklag, ehe er sich zurückkämpfte. „Es passiert uns leider noch zu oft, dass wir erst auf die Schnauze fallen müssen, um aufzuwachen. Das gilt es abzustellen“, fordert Torjäger Robert Glatzel. „Wir brauchen häufig zu lange, um ins Spiel zu kommen. Jetzt geht es darum, dass wir über 90 Minuten unsere Leistung abrufen.“

Eine Sichtweise, die Mitspieler Pherai teilte, auch wenn Walter überraschend widersprach. „Ich sehe das komplett anders. Meine Mannschaft hat eindrucksvoll bewiesen, wie man nach zwei Slapstick-Gegentoren zurückkommen kann“, sagte der HSV-Coach, der darum warb, in der Bewertung auch die Qualität St. Paulis zu berücksichtigen. „Ich weiß, was Robert Glatzel meint, aber es liegt nicht immer in unserer Hand, sondern der Gegner hat es einfach gut gemacht. Es ist keine Kirmestruppe, sondern der Tabellenführer.“ Das (Auswärts-)Thema werde ihm „ein bisschen zu hochgeschaukelt“.

HSV-Boss Boldt übt Kritik – an Walter?

Allerdings verlangt auch Sportvorstand Jonas Boldt mehr Seriosität, um gar nicht erst mit zwei Toren in Rückstand zu geraten. So hätte die Mannschaft (oder das Trainerteam?) unmittelbar vor Daniel Heuer Fernandes’ kuriosem Eigentor auf eine spielerische Lösung beim Abstoß verzichten sollen. „Was ich primär bemängele“, sagte der Manager, „wir haben gerade das 0:1 am Millerntor kassiert, die Stimmung ist großartig, wir haben kein gutes Momentum. Man kann es anders lösen.“

Mehr zum Thema:

Grundsätzlich aber soll Boldt Walters Qualitäten in der Führung einer Mannschaft zu schätzen wissen und dieses Verdienst taktischen Feinheiten überordnen.

Auch auf St. Pauli hat der HSV nicht nur wegen seines Comebacks bewiesen, dass die Mannschaft intakt ist. Glatzel, Heuer Fernandes, Miro Muheim, der verletzte Ludovit Reis und Kapitän Sebastian Schonlau hielten jeweils eine emotionale Ansprache in der Halbzeitpause, die eine Leistungssteigerung zur Folge hatte. „Wir haben uns selber gepusht“, erzählte Pherai. Weil Walter bereit ist, Verantwortung abzugeben. Auch das ist ein Lerneffekt.