Hamburg. Zwei Hamburger wollen mit ihrem Start-up den Fußball revolutionieren. Das Programm findet Spieler binnen Sekunden – auch für den HSV

Tim Schröder sitzt im 20. Stock des Empire Riverside Hotels, klappt seinen Laptop auf und loggt sich auf einer Webseite namens „Plaier“ ein.

Die Plattform hat er mit seinem Kollegen Jan Wendt entwickelt, Fußballvereine können dort auf der ganzen Welt nach neuen Spielern für ihre Mannschaft suchen. Wendt und Schröder versprechen damit nicht weniger, als den „internationalen Fußball zu revolutionieren“.

Um zu zeigen, wie Plaier funktioniert, durchforstet Schröder das System nach neuen Spielern für den HSV. Er sucht in europäischen Ligen nach einem Ersatz für Robert Glatzel, falls der Stürmer, der gerade seinen Vertrag bis 2027 verlängert hat, während der Saison verletzt oder gesperrt sein sollte.

KI findet binnen Sekunden Dutzende Spieler für HSV

Auf dem Bildschirm ploppt eine Liste mit Dutzenden Spielern auf, mit denen der HSV Glatzel ersetzen könnte. Gefunden hat all diese Spieler aber kein Scout, sondern eine künstliche Intelligenz (KI), das Herzstück des Programms.

Und das alles binnen weniger Sekunden, ohne dass sich eine Schar von Mitarbeitern stundenlang Videomaterial angucken musste.

KI im Fußball – das ist per se nichts Neues. Der FC Liverpool, FC Bayern München und Werder Bremen beispielsweise arbeiten seit Jahren mit der Technik, um Spieler zu finden, Abläufe zu optimieren sowie das Training besser zu steuern.

Belgischer Erstligist erfolgreich mit Daten

In der abgelaufenen Saison hat der belgische Erstligist Union Saint-Gilloise in der Europa League für Aufsehen gesorgt. Der Brüsseler Vorstadtclub schaltete im Achtelfinale Union Berlin aus, scheiterte im Kampf ums Halbfinale dann an Bayer Leverkusen.

Seit 2018 gehören die Belgier dem britischen Milliardär Tony Bloom, der bereits 75 Prozent an seinem Heimatverein, dem englischen Erstligisten Brighton & Hove Albion, besitzt.

Bloom ist studierter Mathematiker und gewann als Pokerspieler ein siebenstelliges Vermögen. Richtig viel Geld verdiente er aber mit der Firma Starlizard, die Daten über Sportereignisse sammelt, Spielvorhersagen trifft und unter anderem Wettanbieter beliefert.

Saint-Gilloise: Millionengewinn mit unbekannten Spielern

Auch Saint-Gilloise arbeitet mit den Daten und hat in den vergangenen Jahren mit überraschenden Transfers großen Erfolg gehabt. 2018 holten sie Deniz Undav ablösefrei vom SV Meppen aus der Dritten Liga.

Undav wurde Torschützenkönig in Belgien und im vergangenen Jahr für sieben Millionen Euro in die Premier League verkauft – nach Brighton.

Mit Victor Boniface hatte Saint-Gillioise dieses Jahr den besten Torschützen der Europa League in der Mannschaft. Der Nigerianer kam 2022 vom norwegischen Erstligisten FK Bodø/Glimt. Sein Marktwert ist seitdem von 700.000 auf sechs Millionen Euro angewachsen (Quelle: transfermarkt.de).

KI-Plattform „Plaier": Jährliche Gebühr im fünfstelligen Bereich

Mathematische Formeln statt Millionensummen – gerade für Vereine mit einem kleinen Etat ein vielversprechender Weg. Auch Plaier soll unbekannte und unterschätzte Spieler ausfindig machen und den Vereinen eine Vorauswahl von potenziellen Neuzugängen präsentieren.

Was die Anwendung von anderen Programmen unterscheide, sei der systemische Ansatz, sagen die beiden Hamburger Gründer: „Wir analysieren nicht nur die Spieler, sondern setzen sie in den Kontext des Kaders, Vereins und der Liga.“

Dadurch liefere Plaier für jeden Club individuelle Ergebnisse – und das für eine jährliche Gebühr im fünfstelligen Bereich. In Anbetracht möglicher Transfererlöse in Millionenhöhe ein Schnäppchen.

„Plaier"-Gründer: „Wir machen das Scouting besser."

Scouts müssten sich aber nicht fürchten, in ein paar Jahren arbeitslos zu sein: „Wir ersetzen das Scouting nicht. Wir machen es nur besser“, sagt Wendt.

„Der HSV kann sich wahrscheinlich mit 500 Spielern im Jahr intensiv beschäftigen. Wir sorgen dafür, dass diese 500 Spieler, die in das Scoutingsystem reinkommen, alle bundesligatauglich sind“, sagt der Start-up-Gründer. „Alle würden den HSV stärker machen.“

Der Verein selbst wollte sich auf Abendblatt-Anfrage nicht zu dem Thema äußern. Schröder betont aber, wie wichtig die menschliche Perspektive eines Scouts bei einem Transfer sei – und kann sich einen Seitenhieb auf den HSV nicht verkneifen: „Du willst ja niemanden haben, der in der Kabine Stunk macht oder Autorennen im Hafen fährt.“

Zur Erinnerung: HSV-Profi Jean-Luc Dompé raste Anfang Februar auf St. Pauli mit seinem Wagen in eine Bushaltestelle und flüchtete anschließend im Mercedes-AMG seines Mitspielers William Mikelbrencis. Die Ermittlungen der Polizei dauern an.

Sportwissenschaftler Fröhlich: Scouts bleiben wichtig

Auch Michael Fröhlich glaubt nicht, dass Technologien, die mit KI arbeiten, menschliche Scouts ersetzen werden.

Der Sportwissenschaftler von der Technischen Universität Kaiserslautern-Landau beschäftigt sich seit Jahren mit dem Einsatz von KI im Sport und betreut mit seinen Kollegen unter anderem das deutsche Radrennteam Storck-Metropol Cycling.

„Der einzelne Scout hat viel individuelleres Wissen“, betont Fröhlich. „Er kennt das familiäre Umfeld, weiß, wo die Eltern arbeiten, kennt die schulischen Leistungen. Das sind Informationen, die in KI-Modellen nicht enthalten sind.“

Die Daten dürften menschliche Entscheidungen nicht ersetzen und seien nur ein unterstützendes Hilfsmittel. „Man darf sich nicht zum Sklaven dieser Daten machen“, sagt der Wissenschaftler.

KI-Scouting: Glatzel-Ersatz in der Zweiten englischen Liga

Bei der Suche nach einem Glatzel-Ersatz ist Schröder derweil auf einen Stürmer aus der Zweiten englischen Liga gestoßen: Luke David Berry.

Der Stürmer spielt beim südenglischen Verein Luton Town, der gerade in die Premier League aufgestiegen ist, und wäre im Sommer ablösefrei zu haben.

Laut der Daten ist er auf seiner Position der beste in der Zweiten englischen Liga und weltweit auf Platz 122 von 4452. Ein etwas überraschendes Ergebnis bei gerade einmal drei Saison­toren in 21 Einsätzen.

„Er hat nur 660 Minuten gespielt“, gibt Wendt zu bedenken. „Bei unter 900 Minuten, also zehn Spielen, empfehlen wir noch mal einen genaueren Blick.“ Dennoch ist er sich sicher: „Er wäre auf jeden Fall eine Verstärkung für den HSV.“

Kittel-Ersatz aus Australien, Aserbaidschan oder Holland?

Ein anderer Spieler, der den HSV im Sommer verlassen könnte, ist Sonny Kittel. Für den Mittelfeldspieler hat das Programm eine Reihe von Vorschlägen.

Sem Steijn vom niederländischen Erstligisten Twente Enschede, den Aserbaidschaner Ramil Sheydaev oder einen gewissen Marco Tilio aus Australien.

Über Letzteren sagt Wendt: „Den kann man sich jetzt angucken, wenigstens eine halbe Stunde am Schreibtisch, ohne dass du 5000 Euro Reisekosten ausgeben musst und 40 Stunden unterwegs bist.“

Interessant: Laut des Programms gibt es für Kittel keinen gleichwertigen Ersatz in der Zweiten Liga. „Das zeigt, wie stark der Kader ist“, sagt Schröder. „Und dass Jonas Boldt einen ziemlich guten Job gemacht hat.“

„Plaier": Daten zu 200.000 Spielern aus über 4000 Ligen

Die Prognosen basieren auf Daten, die Wendt und Schröder bei spezialisierten Anbietern einkaufen. Die Firmen beschäftigen ein Heer von Mitarbeitern auf der ganzen Welt, die zu so gut wie jedem Spiel und Spieler, von denen es Videomaterial gibt, Daten sammeln.

Jeder Kopfball, jeder Pass, jeder Zweikampf wird notiert und in eine Datenbank eingepflegt. Und das alles größtenteils manuell. „Da guckt sich dann jemand das Videobild an und codiert das Spiel pro Sekunde. Das sind manchmal 30.000 Einzelevents pro Spiel“, sagt Schröder.

Dadurch haben er und Wendt mehr als 200.000 Spieler aus über 4000 Ligen in ihrer Datenbank, von der Premier League bis hin zur zweiten südkoreanischen Liga.

Fröhlich: „Datenmanipulation ist Tor und Tür geöffnet."

Auf diesen Daten basiert das gesamte Geschäftsmodell von Plaier. Dementsprechend verwundbar ist das System, wenn sich Fehler in die Daten einschleichen – versehentlich oder mit manipulativer Absicht.

„Datenmanipulation ist Tor und Tür geöffnet, wenn ich damit richtig viel Geld verdienen kann – egal, wie gesichert die Daten sind“, sagt Fröhlich. Datensicherheit sei auch bei Plaier ein großes Thema, betonen die Gründer.

„Wir vergleichen die unterschiedlichen Datenanbieter, um zu erkennen, ob es da Anomalien gibt.“ Außerdem soll das System auffällige Werte erkennen und melden.

Heißt: Wenn HSV-Außenverteidiger Miro Muheim in einem Spiel plötzlich 30 Flanken geschlagen haben soll, obwohl er in der abgelaufenen Saison nur auf 53 kommt, wird der Wert markiert und überprüft.

Dass sich Betrüger an den Daten bedienen würden, glaubt Wendt indes nicht: „Das wird noch ein bisschen dauern, bis die auf die Idee kommen, so etwas zu machen.“ Letztlich sei ohnehin jeder Zweikampf, jede Grätsche, jeder Torschuss überprüfbar.

„Plaier" trifft Prognosen über die Entwicklung von Spielern

Wie entscheidend diese Statistiken sein können, kann man erahnen, wenn Schröder auf einen weiteren Wert, den sein Programm ausspuckt, zu sprechen kommt: das Potenzial.

Im Falle von Glatzel-Ersatz Berry verspricht die KI ein gleichbleibendes Niveau für die kommenden vier Jahre. Doch sein Programm wagt auch Prognosen über die Entwicklung von Jugendspielern, denen auf den ersten Blick eine große Karriere blüht. Die KI kommt da oft zu einer gegenläufigen Einschätzung.

„Das ist eine der Sachen, über die wir am häufigsten gestolpert sind. Wir hatten junge Spieler, die mit 18 kein Potenzial mehr hatten. Da dachten wir: Das kann doch nicht sein“, sagt Wendt.

Bayern-Star Musiala: Leistungshöhepunkt schon erreicht

So zum Beispiel bei Jamal Musiala. Der 20 Jahre alte Nationalspieler, eines der größten Talente des Landes, hat seinen Leistungshöhepunkt schon erreicht, wenn es nach der KI geht. „Jamal Musiala wird sich nicht mehr steigern“, sagte Wendt dem „Spiegel“ – allen Zweifeln zum Trotz.

Die Technologie erkennt in den Daten eines Spielers Muster, die sie schon tausendfach bei anderen Spielern gesehen hat. Daraus werden Prognosen abgleitet.

Vereinfacht gesagt, schaut sich das System an, welche Spielanlagen ein Spieler heute haben muss, um in ein paar Jahren ein gestandener Bundesligaspieler zu sein.

Die Grundlage: unzählige Daten zu jedem einzelnen Spieler. Sollten die Prognosen zutreffen, würden Wendt und Schröder den internationalen Fußball tatsächlich revolutionieren.

Forscher Fröhlich bezweifelt Prognosen zum Potenzial

Bei solchen Aussagen ist Fröhlich allerdings skeptisch: „Keiner von uns kann prognostizieren, wie sich eine Person definitiv entwickeln wird. Die Informationen, die man aus der KI herauslesen kann, sind nur so gut wie die Grunddaten, die dafür verwendet worden sind“, sagt er.

Fröhlich weist darauf hin, dass den Daten, die aus Videomaterial gewonnen werden, bestimmte Aspekte fehlen. „Physiologische Daten, also zum Beispiel Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Regenerationsverhalten oder die Psyche eines Spielers, können Bildinformationen nicht liefern. Doch die sind ganz entscheidend.“

KI-Scouting: Fußballromantik geht verloren

Wenn man Wendt und Schröder zuhört, wie sie mit Zahlen und Exceltabellen umherjonglieren, von Wahrscheinlichkeiten und Zusammenhängen sprechen, dann gerät bei jedem Satz die romantische Vorstellung vom Fußball und seinen eigenen Gesetzen ein wenig mehr ins Wanken.

„Die zerstören wir zu einem gewissen Grad“, gibt Wendt zu, der wie Schröder selbst mit Leib und Seele Fußballfan ist. „Doch die Romantik entsteht durch etwas anderes. Die Romantik liegt im Widerlegen der KI“, versucht er die Herzen der Fußballfans zu beruhigen.

„Alles, was wir machen, ist Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wir rechnen nicht aus: Morgen passiert das. Sondern wir sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass das morgen passiert, liegt bei 90 Prozent.“

Will heißen: Es können noch immer Dinge passieren, die die KI nicht erfassen kann. „Es ist ja keine Playstation. Auf dem Platz spielen ja tatsächlich noch Leute, es weht Wind, ist minus fünf Grad kalt, und die Busfahrt war schwierig.“

HSV: Entscheidet Wetterbericht, wer spielt?

Doch Schröder tüftelt schon an einer Möglichkeit, Wettervorhersagen in die Leistungsprognose der Spieler einzubeziehen. „Im Prinzip müsste ich einen weißen Kittel anhaben, weil ich die Forschungsabteilung bin.“

Vielleicht wird also in ein paar Jahren der Wetterbericht darüber entscheiden, welcher Spieler auf dem Platz steht.

Auch Sportwissenschaftler Fröhlich glaubt, dass die Technologie den Sport in den kommenden Jahren noch tiefer durchdringen wird. „Ich bin gespannt, ob in 15 Jahren die Südkurve randaliert, weil die KI einen falschen Spieler aufgestellt hat,“ sagt er. „Wer wird dann ausgebuht?“