Hamburg. HSV-Trainer erfährt von besonderer Hilfe seines Darmstädter Kollegen. Auch Walters Club unterstützt Ukrainer auf vielfältige Weise.

Am späten Donnerstagmittag wurde es wieder voll im Presseraum des Volksparkstadions. Kurz nach 14.30 Uhr saß HSV-Trainer Tim Walter auf dem Podium und stellte sich vor dem Topspiel des Wochenendes gegen Darmstadt 98 den Fragen der Medienvertreter. Erster gegen Zweiter, das Duell der beiden besten Mannschaften dieser Zweiten Liga. Live zur besten Sendezeit am Sonnabendabend (20.30 Uhr/Sky, Sport1 und im
Liveticker bei abendblatt.de).

Wie geht es den angeschlagenen Spielern („gut“), wie kann man diesen „Hauch von Bundesliga“ zur Primetime bezeichnen („Saturday Night Fever“) und wie ist Gegner Darmstadt einzuschätzen („clever“)? Für Walter war die 14-minütige Frage- und Antwortrunde vor dem Spiel der Spiele Routine. Ein charmantes Lächeln hier, Foto, ein Griff an den grauen Bart dort, Foto. Ganz normaler Pressekonferenzalltag.

Dabei hat aber natürlich auch Walter am Tag vor dem Jahrestag des Ukraine-Krieges nicht vergessen, dass es in anderen Teilen Europas seit 365 Tagen schon lange keinen normalen Alltag mehr gibt. „Der Fußball erscheint manchmal wie eine eigene Welt, aber wir sind nicht vom Leben abgeschnitten. Was außerhalb unserer Grenzen, aber bei uns in Europa und der Welt passiert, berührt uns sehr“, sagt Walter dem Abendblatt. Der Familienvater ist Fußballlehrer, kein Politiker. Aber er ist auch Mensch.

Darmstadts Lieberknecht nahm ukrainische Flüchtlinge auf

Genauso übrigens wie sein Darmstädter Kollege Torsten Lieberknecht. Durch einen Sieg gegen den HSV könnte er mit den Lilien dem kleinen Wunder sehr nahekommen, das ihm und seiner Mannschaft vor der Saison noch niemand zugetraut hat. Doch auch, oder besser: besonders Lieberknecht weiß, dass es am Jahrestag des russischen Angriffskrieges Wichtigeres als ein Spitzenspiel im Fußball gibt.

Kaum ein Fußballtrainer zeigte sich nach dem russischen Überfall vor einem Jahr öffentlich so betroffen wie der 49-Jährige. Als er auf einer ähnlichen Spieltagspressekonferenz, damals vor Darmstadts Partie gegen Heidenheim, auf die Situation in der Ukraine angesprochen wurde, antwortete der Trainer: „Bei der Familie Lieberknecht stehen die Türen grundsätzlich für jeden Flüchtling aus der Ukraine offen. Wenn wir aktiv sein können, dann ist es das Mindeste, zu sagen: Wir geben anderen Hilfe – ob es monetär ist oder Leute aufzunehmen.“

Torsten Lieberknecht: „Zuzuhören ist das Wichtigste“

Starke Worte, denen noch stärkere Taten folgten. Nicht einmal einen Monat nach dem Beginn des Krieges hatte Lieberknecht Wort gehalten und eine Ukrainerin mit ihrem Sohn in seiner Familie aufgenommen. „Uns war es wichtig zu sagen: ,Unser Haus ist euer Haus. Ihr braucht nicht fragen, ob ihr an den Kühlschrank gehen oder euch einen Kaffee machen könnt. Bitte macht es einfach‘“, berichtete Lieberknecht seinerzeit bei „hr-info“ über die ersten gemeinsamen Tage unter einem Dach.

Doch wichtiger als ein Kaffee oder ein offener Kühlschrank war für Lieberknecht, seine Frau und die gemeinsamen drei Kinder, sich mit den ukrainischen Gästen auszutauschen. Mithilfe des Google-Übersetzers haben die Lieberknechts und ihre Gäste lange Gespräche geführt. „Wenn wir merken, dass Gesprächsbedarf da ist, hören wir zu. Manchmal kann man ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern, aber dann spürt man auch immer wieder die Tiefe, die beide durch ihre Erlebnisse mitbringen. Es gibt klar diese Momente, in denen wir da sein und zuhören müssen. Zuzuhören ist das Wichtigste.“

Walter wusste nichts von Lieberknechts Engagement

Ein Jahr später tobt noch immer der Krieg in der Ukraine. Noch immer sterben täglich Menschen, Frauen werden vergewaltigt, Kinder verlieren ihr Zuhause. Doch zumindest den Lieberknecht-Gästen geht es ein wenig besser: „Wir haben für sie eine Wohnung gefunden und diese mit vielen fleißigen Helfern aus dem Freundeskreis eingerichtet“, sagt der Lilien-Trainer dem Abendblatt.

„Torsten ist ein geschätzter Trainerkollege“, lobt Walter, der von Lieberknechts Einsatz außerhalb des Spielfeldes erst durch das Abendblatt erfuhr. Doch auch beim HSV hat man in den vergangenen Monaten seit dem Kriegsausbruch geholfen. Auf Initiative von Busfahrer Zoran Suka wurden beispielsweise mehrere Hilfskonvois mit zahlreichen Kleinbussen des Clubs organisiert, die Lebensmittel, Medikamente, Klamotten und andere Dinge ins Kriegsgebiet brachten.

HSV stellt die Arbeit in den Fanshops ein

Im vergangenen Mai organisierte der Club ein Ukraine-Benefizspiel im Volkspark, durch das ein sechsstelliger Spendenbetrag zusammenkam. Die HSV-Stiftung ist in der Unterkunft Schnackenburgallee (Parkplatz braun) regelmäßig mit diversen Sportangeboten für geflüchtete Kinder und Jugendliche aktiv. Und an diesem Freitag wird sich der Club bei der stadtweiten Aktion „#Hamburgstehtstill“ beteiligen. Um Punkt 12 Uhr wird auf der Geschäftsstelle geschwiegen, in den Fanshops wird die Arbeit eingestellt, und auch im Kabinentrakt soll vor dem Abschlusstraining der Opfer des Krieges gedacht werden.

Doch die Welt dreht sich weiter. Also wird am Abend nach dem Jahrestag doch wieder Fußball gespielt. Am ausverkauften Böllenfalltor. Spitzenreiter gegen Verfolger. Einer wird gewinnen, einer wird verlieren. Vielleicht gibt es auch ein Unentschieden. Der Ausgang des Duells ist offen. Nur eines ist schon vor der Partie klar: Es ist ein Topspiel, keine Frage. Aber: Es geht um Fußball. Anders als in der Ukraine geht es nicht um Leben oder Tod.

Voraussichtliche Aufstellungen:

Darmstadt: Schuhen – Riedel, Zimmermann, Isherwood – Ronstadt, Karic – Schnellhardt, Holland – Mehlem, Honsak – Tietz.

HSV: Heuer Fernandes – Heyer, David, Schonlau, Muheim – Meffert – Reis, Benes – Jatta, Glatzel, Dompé.