Für einen Großvater (73) und seine Familie sollte es ein normales Fußballspiel werden. Doch dann wurden sie in Stellingen attackiert.
- HSV-Fans attackieren eine Familie nach dem Spiel gegen Eintracht Braunschweig
- Ältestes Opfer der Prügelattacke ist 73 Jahre alt
- Die Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung
Hamburg. So richtig fassen kann Henning (Name geändert, echter Name der Redaktion bekannt) noch immer nicht, was am vergangenen Sonntag passiert ist, als das Abendblatt den 23 Jahre alten HSV-Fan am Telefon erreicht. Nach dem 4:2-Heimsieg gegen Eintracht Braunschweig wurden er, sein Vater (50) und sein Großvater (73) an der S-Bahn-Haltestelle Stellingen Opfer einer brutalen Prügelattacke, die Hennings elf Jahre alte Bruder mit ansehen musste.
Und das Merkwürdige: Die Schläger waren offenbar ebenfalls HSV-Fans. „Wir sind immer noch geschockt und auch ein Stück weit traumatisiert. Es ist unbegreiflich, dass wir als HSVer von HSVern zusammengeschlagen wurden. Den Angreifern war es völlig egal, dass ich ein Trikot anhatte und wir Anhänger desselben Vereins sind“, sagt Henning.
HSV-Fans nach Prügelattacke verletzt
Gesundheitlich sind alle mehr oder weniger glimpflich davongekommen. Henning erlitt eine leichte Gehirnerschütterung sowie mehrere Prellungen. Sein Vater kam ebenfalls mit Hämatomen davon, zudem machte ihm bei der Abreise in der S-Bahn ein Kreislaufkollaps zu schaffen. Der Großvater erlitt einen Bluterguss im Gesicht.
„Wir haben körperlich alles einigermaßen verkraftet. Mein kleiner Bruder ist aber sehr still, ihm merkt man an, dass es ihm zugesetzt hat, zu sehen, wie seine drei Bezugspersonen zusammengeschlagen wurden. Es sollte doch einfach nur ein schöner Fußballnachmittag mit der Familie werden“, sagt HSV-Fan Henning.
HSV: Wie die Stimmung nach Familienausflug kippte
Die gesamte Familie hatte sich schon seit Wochen auf die Partie im Volksparkstadion gefreut. Der HSV ist in der Familie fast schon eine Art Religion. Der Großvater, der schon zu Uwe Seelers Zeiten ins Stadion gegangen war, gab die Liebe für den Verein an seinen Sohn weiter, der wiederum hat Henning und seinen kleinen Bruder infiziert. Für den Elfjährigen sollte es der erste richtige Stadionbesuch werden. Henning hatte seinem Vater und seinem Bruder die Tickets zum Geburtstag geschenkt.
Und das spektakuläre Heimspiel mit sechs Toren und beeindruckender Stimmung rundete den eigentlich perfekten Familien-Nachmittag ab. Nach der Partie feierte die Familie noch die Mannschaft von der Südtribüne aus, wartete die Ehrenrunde ab und machte sich anschließend auf den Weg in Richtung S-Bahn-Haltestelle Stellingen. Die Laune war bestens. Es wurde gefachsimpelt, überall glückselige Fans, Gesänge, Jubel, bis vor der S-Bahn-Unterführung plötzlich die Anhänger stoppen mussten. „Es war bis dahin ein wunderschöner Tag, der zu einem Albtraum wurde“, sagt Henning.
Rund 30 HSV-Anhänger hatten gegen 16.30 Uhr den Zugang zum Tunnel blockiert, offenbar um einen koordinierten Fan-Marsch zu initiieren. Einige Minuten standen Henning und seine Familienmitglieder in der Menschenmenge, bis er die Fans, die den Tunnel blockierten, darauf hinwies, dass er gerne weitergehen würde. Die Stimmung kippte schnell, es wurde aggressiv. „Dann geh doch durch!“, riefen die Tunnel-Blockierer und schubsten Henning in den Tunnel.
73 Jahre alter Opa von HSV-Fans geschlagen
Der 23-Jährige blickte in Richtung der wartenden Menschenmenge am Tunneleingang und wartete darauf, dass auch seine Familie nachkommt. Dieses Warten wurde von den immer aggressiver werdenden Fans als Provokation aufgefasst. „Verpiss dich!“, riefen sie Henning mehrmals zu. Unmittelbar danach rannte einer der Täter auf ihn zu und schlug ihm ansatzlos mit der Faust gegen die Schläfe. „Zwischen dem Beleidigen und dem ersten Schlag lagen vielleicht 15 Sekunden. Ich hatte keine Chance, mich zu erklären. Ich habe die Schläge dann einfach über mich ergehen lassen. Hätte ich mich gewehrt, wäre die Situation wohl noch mehr eskaliert“, erinnert sich Henning.
Dramatisch war die Situation auch so. Sein Vater sah den Faustschlag und wollte seinem Sohn zur Hilfe kommen. „Mein Vater kam angesprintet und drückte den Mann von mir weg. Anschließend sind drei weitere Personen auf meinen Vater losgegangen, haben ihn zu Boden geworfen und ihm mehrmals gegen den Hinterkopf geschlagen. Sie sind wie Raubtiere über uns hergefallen. Ich fühlte mich so hilflos und fast schon gedemütigt“, erinnert sich Henning, der von zwei Personen an die Tunnelwand gedrückt und mit Schlägen gegen den Kopf und in die Rippen malträtiert wurde.
Der 73 Jahre alte Großvater der Familie versuchte seinen Liebsten zu helfen, packte einen der Angreifer am Kragen und wurde ebenfalls mit einem Faustschlag niedergeschlagen. „Mein kleiner Bruder musste ansehen, wie seine Liebsten verprügelt wurden. Gott sei Dank gab es einen Mann, der sich schützend vor ihn gestellt hat. Auch andere Fans haben uns geholfen, sonst wäre wohl noch Schlimmeres passiert“, sagte Henning, der vor allem die Attacke auf seinen Großvater abscheulich findet.
Prügelattacke auf HSV-Familie: Wo war die Polizei?
„Mein Opa hatte vor ein paar Jahren einen schweren Arbeitsunfall, dabei hatte er sich praktisch alle Knochen im Gesicht gebrochen. Durch den Schlag ins Gesicht hätte sonst was passieren können. Wie kann man einen fast 74 Jahre alten Mann niederschlagen? Das ist doch Wahnsinn!“, schimpft Henning.
Obwohl die Attacken mehrere Minuten andauerten, war kein Polizist in der Nähe. „Auf dem Weg vom Stadion zur S-Bahn-Haltestelle habe ich nicht einen Polizisten gesehen. Wären die Beamten präsent gewesen, wäre all das nicht passiert. Erst auf dem Bahnsteig habe ich Beamte der Bundespolizei gesehen“, kritisiert der junge HSV-Fan.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und unzähligen Schlägen konnte die Familie in Richtung S-Bahn-Haltestelle fliehen. Einer der Angreifer sprintete jedoch der verängstigten Familie hinterher und trat Henning in den Rücken. Erst danach konnten sie unter Schock den Heimweg antreten. „Die Bundespolizisten haben gefragt, ob ich sofort die Anzeige erstatten wollte, aber ich wollte einfach nur nach Hause. Am liebsten hätte ich alles verdrängt und unter den Teppich gekehrt“, sagt Henning, der am Tag nach dem schrecklichen Angriff mit Arbeitskollegen sprach, die ihn ermutigten, Anzeige zu erstatten.
Polizei ermittelt nach Attacke auf HSV-Fans
Nach der Aufnahme der Anzeige bekam Henning Fotos von polizeibekannten Hooligans vorgelegt, in der Hoffnung, jemanden wiederzuerkennen. Doch vergebens. „Es ging alles so schnell, ich konnte nur einen Angreifer halbwegs beschreiben. Keiner der Angreifer war maskiert“, schildert Henning den Vorfall.
Die Polizei bestätigte dem Abendblatt, dass die Ermittlungen nach der Attacke in Stellingen laufen. „Wir ermitteln unter anderem wegen mehrfacher gefährlicher Körperverletzung und einfacher Körperverletzung“, sagt Polizeisprecher Sören Zimbal. Mittlerweile ist nach Abendblatt-Informationen auch das Landeskriminalamt involviert.
Die Polizei bittet Zeugen, die Beobachtungen in Stellingen gemacht haben, sich unter der Telefonnummer 040/4286-56789 oder bei jeder Polizeidienststelle zu melden.
- Neue Millionen: Wie der HSV den Bundesliga-Etat plant
- Ex-Vorstand Thomas Wüstefeld: Zoff um VIP-Karten?
- HSV-Aktionäre tagen: Zoff um Jansen, Wüstefeld und Dinsel
HSV lädt Prügel-Opfer zum Heimspiel ein
Die Anlauf- und Schutzstelle des HSV, „Ankerplatz“, die sich mit gewalttätigen Vorkommnissen und Diskriminierung rund um die Heimspiele beschäftigt, ist derzeit mit der Aufarbeitung des Vorfalls nach dem Braunschweig-Spiel beschäftigt. Das bestätigte der Verein dem Abendblatt am Mittwochabend.
Der HSV wurde noch am Sonntag direkt von Fan Henning über die Vorfälle informiert. Nur wenige Stunden nachdem er den Verein per E-Mail in Kenntnis gesetzt hatte, kam eine Antwort. „Mit der Reaktion des Vereins bin ich zufrieden. Sie haben mir geschrieben, dass sie den Fall aufarbeiten wollen. Der HSV will mich und meine Familie zu einem Heimspiel einladen. Darauf geantwortet habe ich noch nicht. Unsere Lust auf den Stadiongang ist derzeit auf dem Nullpunkt angekommen“, sagt Henning.
Dabei hatte er seine Liebe zum HSV gerade erst neu entdeckt. Grund dafür war ein eher zufälliges Treffen mit Trainer Tim Walter im vergangenen Sommer. „Ich war am Flughafen, und die Mannschaft ist ins Trainingslager geflogen. Ich habe Tim Walter gesagt, dass er der Grund ist, warum ich im vergangenen Sommer Mitglied geworden bin. Der HSV macht nach Jahren des schlechten Fußballs endlich wieder Spaß. Es macht mich einfach nur traurig, dass die Attacke vom Sonntag vieles für mich und meine Familie verändert hat.“