Hamburg. Der komplette Aufsichtsrat steht im November zur Disposition, die Verträge der Vorstände laufen aus. Alles hängt am Präsidenten.
Am Mittwoch hatten Thomas Wüstefeld und Jonas Boldt, die beiden Vorstände des HSV, einen gemeinsamen Termin in Dortmund: die DFL-Generalversammlung. Auf der Agenda stand nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft des Fußballs. Nach der Rückkehr aus Dortmund dürfen und müssen sich Wüstefeld und Boldt dann aber zunächst einmal um eine Frage kümmern: Wie soll bitteschön die Zukunft des HSV aussehen? Oder anders gefragt: Hat dieser HSV noch eine Zukunft?
Die Kurzantwort ist simpel: nein! Denn mal abgesehen vom desaströsen Erscheinungsbild, das der Club seit Wochen abgibt, von der extrem angespannten Finanzsituation, von den Streitigkeiten in der Führung und der zerrissenen Geschäftsstelle hat aktuell kein Verantwortlicher – bis auf Präsident Marcell Jansen – eine langfristige Perspektive beim HSV.
Haben Boldt und Wüstefeld eine HSV-Zukunft?
Beispiel Vorstand: Der Vertrag von Sportvorstand Jonas Boldt läuft im Sommer aus. Ursprünglich hatte Jansen eine schnelle Verlängerung in Aussicht gestellt, jetzt soll frühestens im November verhandelt werden.
Noch kurzfristiger ist die HSV-Zukunft von Boldts Vorstandskollegen Wüstefeld, dessen Interimszeit im Januar endet. Der vor einem halben Jahr kommunizierte Plan, dass Wüstefeld pro bono für ein Jahr dieses Amt übernimmt, damit der Aufsichtsrat die Zeit nutzt, eine langfristige Lösung zu finden, ist längst überholt. Stand jetzt weiß im Hier und Jetzt niemand, ob und wie es in den Schaltzentralen des HSV weitergehen soll.
Besetzt Jansen HSV-Aufsichtsrat neu?
Beispiel Aufsichtsrat: Nach Abendblatt-Informationen steht das gesamte Kontrollgremium vor einer unsicheren Zukunft. Denn was bislang kaum einer wusste: Bis auf Aufsichtsratschef Marcell Jansen, der als HSV-Präsident im Siebenergremium gesetzt ist, müssen alle anderen sechs Räte im November auf der nächsten ordentlichen Hauptversammlung neu gewählt werden.
In der Theorie müssen sich dann die Anteilseigner auf eine neue Besetzung einigen. In der Praxis kann Präsident Jansen als Vertreter des Mehrheitseigners HSV e.V. einen neuen Rat nach seiner Wunschvorstellung besetzen – sofern der Beirat seinen Vorschlägen zustimmt.
HSV-Experte fordert neuen Aufsichtsrat
Für Ex-Beirat und Ex-Aufsichtsrat Frank Mackerodt ist das Chance und Risiko zu gleich. „Das Beste wäre ein kompletter Neuanfang. Für mich wäre es logisch, wenn der komplette Aufsichtsrat geht – am besten freiwillig“, sagte Mackerodt in der neuen Ausgabe des Abendblatt-Podcast HSV – wir müssen reden. „Dieser Aufsichtsrat hat keine Philosophie. Ein Neuanfang ist das einzige, was den HSV jetzt noch weiterbringen kann.“
Der 59-Jährige nimmt kein Blatt vor den Mund. „Es herrscht kein Vertrauen im Club. Alles ist gespalten. Dass der Aufsichtsrat das nicht sieht, spricht gegen ihn.“ Mackerodt selbst war bis 2008 im HSV-Aufsichtsrat, bis vor zwei Jahren war er im Beirat und auch 2019 dabei, als sich Marcell Jansen als Präsidentschaftskandidat dem Beirat vorstellen musste.
Dessen Wirken sieht Mackerodt mittlerweile extrem kritisch – besonders wegen der engen Beziehung zwischen Jansen und Interimsvorstand Thomas Wüstefeld. „Einer kauft sich Anteile, ist ein Freund von Marcell Jansen und sitzt plötzlich im Vorstand“, kritisiert Mackerodt – und ist mit dieser Kritik keinesfalls alleine.
HSV: Jansen und Wüstefeld ein „No-Go“?
Auch der frühere Aufsichtsratsvorsitzende Manfred Ertel teilt die Fundamentalkritik. „Mir macht Sorgen, dass manche Aufsichtsratspositionen aufgrund von falschen Loyalitäten besetzt werden“, sagt Ertel im Podcast und spricht von „wirtschaftlichen Abhängigkeiten“, „Complianceverstößen“ und nennt die „Geschäftsbeziehung zwischen Jansen und Wüstefeld ein No-Go“.
Ertels Fazit: „Vor einem halben Jahr hätte ich eine sehr positive Bilanz von der bisherigen Jansen-Zeit gezogen – das sehe ich jetzt anders. Der Aufsichtsrat hat ein echtes Problem.“
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Ein Problem, das längst alle anderen HSV-Themen in den Schatten stellt. Es gibt kaum noch einen früheren HSV-Verantwortlichen, der die aktuellen Konstellation befürwortet. Im Podcast spricht sich beispielsweise auch Carl Jarchow, Ex-Aufsichtsrat, Ex-Vorstand und Ex-Präsident, für eine neue Vorstandskonstellation aus. Sein Vorschlag: Man braucht ein neues Dreiergremium mit einem klaren, neuen Vorstandsvorsitzenden.
Unsichere HSV-Zukunft von Boldt und Wüstefeld als Chance?
„Für mich ist Herr Wüstefeld nicht der Kandidat, der den HSV in den kommenden Jahren weiterbringt. Wenn man strategisch weiterkommen will, dann muss man den Posten neu besetzen“, sagt Mackerodt. So würde durch die aktuellen Querelen auch die strategische Transformation, die bereits vor Wochen entschieden wurde, völlig in Vergessenheit geraten.
Ein Beispiel: Unter Ex-Vorstand Frank Wettstein gab es regelmäßige Managementrunden, in denen alle Abteilungen am Tisch saßen und sich in großer Runde über Zukunftsfragen ausgetauscht haben. Nun gibt es nur noch das sogenannte Managementboard, wo strategische Fragen lediglich im kleinen Kreis mit maximal fünf Personen besprochen werden. Besonders auf die zentrale Antwort, wie sich der HSV für die Zukunft aufstellen soll, wartet ein Großteil der Geschäftsstelle bislang vergeblich.
Immerhin: Die Antwort soll es irgendwann auf deutsch geben. Denn die Idee von Interimsvorstand Wüstefeld, dass man beim HSV ab sofort zwei Tage auf englisch und nur noch drei Tage auf deutsch kommuniziert, wurde abgelehnt.
Dass fast alle Verantwortlichen beim HSV keine gesicherte Perspektive haben, kann man aber auch positiv sehen. „Das ist unsere große Chance. Es ist die einzige Chance“, sagt Mackerodt. „So kann es nicht weitergehen.“