Hamburg. Das Vermächtnis von Hamburgs Ehrenbürger: In seinen letzten Jahren war Uwe Seeler auch immer wieder mahnend. Zitate einer Legende.

Für Millionen Menschen in Deutschland war Uwe Seeler eine Konstante, ein treuer Wegbegleiter in ihrem Leben. Ob zu seiner Zeit als Weltklasse-Fußballer oder als Präsident seines HSV in den 90er-Jahren, viele seiner Sprüche sind unvergessen und legendär. „Ein Mittelstürmer verbringt die meiste Zeit seines Lebens im Strafraum“, „Das Schönste auf der Welt ist es doch, stinknormal zu sein“, oder „Zu einer guten Demokratie gehört auch mal ein bisschen Diktatur“ (als HSV-Präsident) sind nur drei Beispiele.

Doch es gab auch den nachdenklichen, den mahnenden Uwe Seeler. Der Fußball und er – das war eine Verbindung, die bis zu seinem Tod am 21. Juli im Alter von 85 Jahren untrennbar schien. Aber besonders in den letzten Jahren seines Lebens schaute der Ehrenbürger der Stadt Hamburg mit immer mehr Distanz auf das Milliardengeschäft Fußball und genauso auf einige Fehlentwicklungen in unserer modernen Gesellschaft.

Uwe Seeler: Zwei Gespräche wirkten wie ein Vermächtnis

In der Rückschau wirken zwei Gespräche mit dem Abendblatt wie ein Vermächtnis von Uwe Seeler: eines geführt wenige Tage vor seinem 77. Geburtstag, kurz bevor er beim Sportpresseball in Frankfurt am Main als „Legende des Sports“ geehrt wurde. Und das zweite anlässlich seines 80. Geburtstags 2016.

Zum Abschluss unserer Serie lassen wir deshalb noch Uwe Seeler selbst durch die aus beiden Gesprächen zusammengefügten Zitaten sprechen, verbunden mit dem Wunsch, dass sich möglichst viele Menschen auch in Zukunft noch an seine Worte erinnern mögen.

Zitate von Uwe Seeler

„Es ereignet sich nicht immer. Aber jetzt, wo ich es akzeptieren muss, dass ich 80 Jahre auf dieser turbulenten Welt zu Gast bin, doch immer öfter.

Der Tag macht Halbzeit. Da meldet sich so gegen 14 Uhr eine innere Stimme und sagt im Befehlston: ,Stopp, min Jung. Jetzt ist es Zeit für eine kleine Ruhepause. Beim Fußball bist du ja auch zur Halbzeit in die Kabine und hast die Füße hochgelegt.‘

Ich verlasse dann flugs mein Büro in Norderstedt und eile in meine ,Kabine‘ nach Hause. Die Wegstrecke: keine fünf Minuten im Auto.

Uwe Seeler schaute im Alter immer wieder zurück

Ist das Wetter gut gelaunt, lege ich mich auf unsere Terrasse mit dem beruhigenden Blick ins Grüne. Bei zu hanseatischer Frischluft verkrieche ich mich bevorzugt in den Ohrensessel im Wohnzimmer. Es dauert keine zehn Minuten, dann bin ich mal eben weg – döse, schlafe ein. Schon als Profi war der Schlaf mein Freund. Reisten wir mit dem Zug, wagte niemand, das Gepäcknetz zu belegen. Das war mein Stammplatz.

In so einer Ruhestellung flogen mir nicht nur einmal die Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit rasant zu. Mit dem Alter schaut man sowieso häufiger zurück, natürlich umso mehr, wenn ich mir Fotos von früher anschaue. Da stellt man sich durchaus die Frage: Was wäre eigentlich gewesen, wenn ...

... ich nicht so tolle, sportverliebte Eltern und Geschwister geschenkt bekommen hätte.

... ich nicht den besten Treffer meines Lebens erzielt hätte: meine Ilka. Ich bin dem lieben Gott sehr dankbar, dass er mir diesen Menschen geschenkt hat.

... ich von Inter Mailand die 1,5 Million Mark Handgeld kassiert hätte und nach Italien ausgewandert wäre.

... ich nach den vielen Verletzungen nicht gekämpft und bereits im Alter von 30 Jahren mit dem Fußball aufgehört hätte.

... mir Männer wie Sepp Herberger, Helmut Schön, Dettmar Cramer, Günther Mahlmann, um nur einige zu nennen, nicht ihr Vertrauen geschenkt hätten.

... wenn ich Trainer geworden wäre.

Die Antwort auf all diese Fragen fällt mir leicht. Ich hätte niemals eine so wunderbare Zeit als Sportler erleben dürfen.

Uwe Seeler: Seine Eltern waren seine Helden

Und was den letzten Punkt betrifft: Ein Glück, dass mir das erspart blieb. Ich hätte als Trainer meinen Charakter verleugnen müssen. Mein Ehrgeiz und mein Temperament wären für diesen Job nicht geeignet gewesen.

Ob zu meiner Zeit als Sportler oder danach – als Held habe ich mich nie gefühlt. Helden waren meine Eltern. Wie sie den Alltag mit uns drei Kindern in einer Fünfzimmerwohnung in Eppendorf gemeistert haben, das war heldenhaft.

Manchmal fragen mich die Menschen, ob ich nicht neidisch sei, dass ich nicht heute Fußballer sein darf. Aber ich vermisse nichts. Meine Einstellung würde zum Sport heute gar nicht passen. Es ist ein hartes, brutales Geschäft geworden, ein Schauspiel mit dem Hauptdarsteller „Geld“. Eine Industrie. Meinen Sport werde ich ewig lieben, aber heute bin ich vor allem ein Bettler für guten Fußball. Gibt es diesen, danke ich für dieses Geschenk, egal, welcher Verein oder welches Land mir ihn bietet.

Dankbar bin ich auch für die Freundschaften, die ich schließen konnte. Ich wurde mehr als einmal gefragt, wie viele Freunde ich als so berühmter Zeitgenosse hätte. Meine Gegenfrage lautete dann stets: Wie viele Finger hat eine Hand? Ich trenne klar zwischen Freunden und Bekannten.

Genauso oft wurde ich gefragt, ob ich Angst vor dem Älterwerden hätte, Angst vor dem Sterben. Nein, Angst habe ich nicht, wir müssen uns alle mit diesem Prozess des Älterwerdens abfinden.

Respekt, Disziplin und Verlässlichkeit sind wichtige Werte

Man lebt doch viel einfacher, wenn man den natürlichen Lauf des Lebens annimmt. Wie das geht? Mit einer gewissen Freundlichkeit und einem Lächeln auf den Lippen. Das Leben ist kein Lernfach in der Schule. Für mich sind Respekt, Disziplin, Verlässlichkeit, Beharrlichkeit, Fair Play und Fleiß wichtige Wegbegleiter. Das war schon früher so und vor allen Dingen heute, wo man überall immer mehr die Ellenbogengesellschaft spürt.

Ob das ,Spiel des Lebens‘ noch so viel Freude macht wie früher? Nein, es hat sich total gewandelt. Was wir dringend brauchen, zumindest ein bisschen mehr, ist Herzlichkeit und Freundlichkeit. Wir erleben jeden Tag die traurige Wahrheit: Radfahrer fahren oft, wie sie wollen. Autos parken auf dem Fußweg. Auf der Autobahn wird brutal die Vorfahrt erzwungen. Wir hören und lesen jeden Tag von Attentaten, Terrorismus, blutigen Demonstrationen, Rowdytum. Der frühere Bundespräsident Walter Scheel hat es schon 1974 mal gesagt: Unser Land ist ein paar Grad kälter geworden. Und er meinte nicht das Wetter, sondern unsere seelische Verfassung. Diese Aussage ist zwar schon viele Jahre alt, hat aber an Aktualität nichts eingebüßt.

Viele Menschen kennen nur drei Buchstaben: I-c-h. Ich befürchte, wir haben eine ganz einfache Begabung verloren: uns ganz einfach des Lebens zu erfreuen. Wenn schon die Jugend unter Zukunftsangst leidet, mache ich mir große Sorgen. Ebenso über den Egoismus.

Uwe Seeler: Menschen sollten bescheidener werden

Auch wenn es viele Menschen in unserem Land gibt, die sich sozial engagieren, beim Bau von Schulen in Afrika helfen, alte Menschen zum Arzt begleiten, Geld spenden: Es sind immer noch zu wenige, die sich für Notleidende einsetzen. Unsere Politiker müssten solche Engagements intensiver unterstützen. Weniger mit Worten, sondern mit Taten.

Mein Tipp zur Besinnung: Wir sollten wieder etwas bescheidener werden. Besserwisser und Wichtigtuer brauchen wir nicht. Bei aller Wertschätzung für Wissen und Können – es geht nicht ohne Gefühle. Und wer Glück haben will in seinem Leben, muss es sich erarbeiten.

Wenn ich zurückschaue, fällt mir ein Satz ein: danke für dieses Leben!“

– Ende –

Ein letzter Gruß der Schneeforscher an Uwe

„Lieber Uwe,

seit über 40 Jahren besteht nun schon unser Freundeskreis, die ,Schneeforscher Obertauern‘, den der frühere Eisschnellläufer Herbert Höfl und Dieter Kindl 1980 in dem 1730 Meter hoch gelegenen Wintersportort in Österreich gründeten. Mit Dir als dem Präsidenten, Franz Beckenbauer als Botschafter, Olympiasieger Willi Holdorf, den früheren Bundestrainern Jupp Derwall und Erich Ribbeck, Deinen früheren Gegenspielern Max Lorenz und Luggi Müller und, und, und.

Erst Anfang Juli haben wir uns wieder zu unserem jährlichen Traditionstreffen in Bad Griesbach gesehen. Leider waren Ilka und Du ja schon seit drei Jahren nicht mehr in der Lage, daran teilzunehmen. Aber in Gedanken warst Du immer bei der Truppe. „Haut rein und feiert schön“, hast Du uns aus dem Krankenhaus zugerufen. „Trinkt einen oder auch zwei auf meine Gesundheit. Ich kann’s gebrauchen.“

Unser Treffen hätte Dir gefallen, Dicker. Wie der Dauerkaiser der Nation mit seinem extrem breiten Sonnenhut in Niederbayern trotz seiner gesundheitlichen Probleme zufrieden aussah. Wir haben in diesen Tagen auch über Euch beide gesprochen, über Eure Einstellung zum Leben und im Speziellen zum Fußball. Ein Motto jagte das nächste. ,Der Beifall gehört dem Schützen, aber das Tor der ganzen Mannschaft.‘ Oder: ,Eine Mannschaft ist eine Schule der Toleranz.‘

Lieber Uwe, wir vermissen Dich in unserem Kreis, und wir wissen nicht, wo Du jetzt bist. Aber eines wissen wir ganz genau: Deine Liebe zu allen Menschen bleibt auf ewig. Danke im Namen aller Schneeforscher.“