Hamburg. Im Wembley-Stadion erlebte der Nationalstürmer im Jahr 1966 seine bitterste Niederlage – und gewann trotzdem. Wie er das schaffte.

Das Wembley-Stadion – ein magischer Ort für deutsche Fußball-Nationalteams mit vielen Momenten für die Ewigkeit. Am Sonntagabend werden Millionen nach London schauen, wenn die DFB-Frauen gegen England um die EM-Krone kämpfen und es den Männern gleichtun können, die 1996 an gleicher Stelle ihren Triumph bei der EM feierten mit dem Golden Goal von Oliver Bierhoff gegen Tschechien im Finale.

Unvergessen auch: Am 7. Oktober erzielte Dietmar Hamann das letzte Tor im alten Wembley-Stadion zum 1:0-Sieg im WM-Qualifikationsspiel für Deutschland gegen England. Am 22. August 2007 waren es erneut die Deutschen, die den Engländern die erste Niederlage in der neu erbauten Arena beifügten (2:1).

1966: Uwe Seelers Niederlage im Wembley Stadion

Auf der Wembley-Hitliste ganz oben bleiben wird aber wohl für immer das Fußballspiel an jenem 30. Juli 1966, als sich England und Deutschland im Finale der Weltmeisterschaft gegenüberstanden. Das Foto vom (nieder-)geschlagenen Uwe Seeler nach dem 2:4 nach Verlängerung ging um die Welt und wurde 2000 von der „Welt am Sonntag“ völlig verdient zum Sportfoto des Jahrhunderts gekürt.

Erstellt wurde es damals vom Fotografen Sven Simon, der eigentlich Axel Springer junior hieß. Mit gesenktem Kopf, flankiert von einem Sicherheitsmann, der ihm eine Hand auf den Rücken legte, verließ der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft den Rasen, hinter ihm sind Willi Schulz und Bundestrainer Helmut Schön zu sehen, neben ihm der WM-Protokollchef. „Vom Kampf gezeichnet, vom Gegner geschlagen, an einem Irrtum zerbrochen“, beschrieb Simon einmal das berühmte Motiv.

Sonderausstellung im Deutschen Fußballmuseum

Später wurde behauptet, das Foto sei bereits zur Halbzeit aufgenommen worden, und Seeler habe nur auf seinen losen Schnürsenkel geschaut. Alles längst widerlegt. Die Kapelle spielte auch nach dem Schlusspfiff, und alleine das Schattenspiel konnte als Beweismittel zugelassen werden. Zudem belegen weitere Aufnahmen, dass das Foto tatsächlich den tiefen Frust Seelers zeigt.

50 Jahre nach Wembley beleuchtete das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund 2016 dies und mehr in allen Facetten und beendete für alle Zeiten diese Diskussion. Anlässlich einer Sonderausstellung entstand damals auch das Motiv mit Seeler und dem historischen Foto. Fakt ist auch: Seit jenem Spiel hat der Begriff „Wembley-Tor“ einen festen Platz im deutschen Fußball. Gemeint ist damit, wenn ein Ball von der Unterkante der Torlatte wieder nach unten springt – und zwar nicht hinter die Torlinie – und von dort weiter Richtung Spielfeld, der Schiedsrichter aber dennoch auf Tor entscheidet.

WM-Finale 1966: Uwe Seeler untröstlich

Im Zeitalter von Torlinientechnologie undenkbar, brachte genau so ein „Treffer“ von Geoffrey Hurst die Engländer 1966 in der 101. Minute des WM-Finales auf die Siegerstraße. Dieses 3:2 regt heute noch jeden Fußball-Fan auf, der es im Fernsehen sieht – und auch Uwe Seeler, wenn nur die Sprache darauf kam. „Willi Schulz, der nun wirklich nicht zart besaitet ist, sagte immer: ‚Diese Tränen trocknen nie!‘ Und das stimmt. Meine Tränen über dieses WM-Finale trocknen auch nie.“

Auch und vor allem deshalb, weil Uwe diese Ereignisse aus nächster Nähe betrachtete: „Ich stand bei diesem Nicht-Tor auf Höhe von Schiedsrichter Gottfried Dienst. Er pfiff, nachdem Wolfgang Weber den Lattenabpraller über das Tor geköpft hatte, eindeutig Eckstoß. Aber an der Seitenlinie stand dieser schnauzbärtige Herr Bachramow und wedelte wie wild mit seiner Fahne in der Luft herum.“

Uwe Seelers WM-Trauma

Gerade so, als wolle er im englischen Sommer Fliegen verscheuchen. Doch das Unheil nahm seinen Lauf. Der Schweizer Dienst lief zu seinem russischen Assistenten, der nickte einige Male mit dem Kopf und zeigte schließlich zum Mittelkreis. Sollte bedeuten: Tor, der Ball war hinter der Torlinie, Anstoß für Deutschland, es hieß in der Verlängerung 3:2 für England – Endstand 4:2.

Uwe Seeler und Bobby Moore beim Wimpeltausch vorm Finale.
Uwe Seeler und Bobby Moore beim Wimpeltausch vorm Finale. © picture-alliance / dpa | London Express

Uwe Seeler erinnerte sich noch Jahre später ganz genau an die Minuten danach in der Kabine: „Nach dem Spiel waren wir alle total fertig, das ist ja klar. Wir waren wütend, wir waren auch verzweifelt – einige brüllten ihren Schmerz über diese Ungerechtigkeit durch die Kabine, einige von uns lagen oder hockten regungslos auf den Bänken. Ein Trauma.“

Nach der Niederlage in den Pub

Was dann folgte, war der Auftritt von Bundestrainer Helmut Schön, der sogar in diesem bitteren Moment die Ruhe selbst war – zumindest äußerlich. „Schön ließ uns an seinen Gedanken teilhaben und versuchte uns damit Trost zu spenden“, sagte Seeler. „Er forderte uns auf: ‚Denkt daran, ein guter Zweiter ist immer noch besser als ein schlechter Erster.‘ Oft habe ich später an diese Aussage gedacht, sehr oft sogar, aber noch im Wembley-Stadion sitzend, war das trotz allem kein bisschen tröstend.

Doch ich weiß auch noch, dass wir nach diesem Finale mit den meisten Spielern durch die Londoner Nacht gezogen sind. Wir waren in einigen Pubs – und wurden überall gefeiert. Von Engländern. Max Lorenz sorgte für Stimmung, es gab Applaus und viele Schulterklopfer. Und das tat dann doch ganz gut.“

„Dieser Herr Dienst war ein Weichei“

Wenn Uwe Seeler über dieses Endspiel von 1966 redete, dann war ihm auch nach den vielen Jahren anzumerken, wie tief der Stachel immer noch saß. Und wenn die Sprache auf Gottfried Dienst kam, dann geriet der Ehrenspielführer schnell in Rage. Er musste sich bremsen, um nicht noch ein weiteres Mal über den Schweizer verbal herzufallen. Uwe winkte dann meistens ein wenig resignierend ab, was so viel zu bedeuten hatte: „Ach, lass mal, ist ja heute lange abgehakt. Und ändern kann man ohnehin nichts mehr ...“

Dennoch gab es oft noch einen ganz kleinen Kommentar als Zubrot: „Dieser Herr Dienst war ein Weichei, hatte die Hosen voll, er war einfach zu feige, gegen die Engländer zu entscheiden – er ging den für ihn leichteren Weg.“ Tragisch für Deutschland, tragisch auch für Uwe Seeler, der sich mit dem nicht so bedeutenden „Titel“ eines Vizeweltmeisters begnügen musste.

Uwe Seelers große Niederlagen

Nach Entscheidungsträger Tofik Bachramow wurde ein Stadion in Baku benannt. In dieser Anlage steht eine Statue des in Aserbaidschan geborenen Schiedsrichters. Sinnigerweise wurde diese vom Wembley-Torschützen Geoffrey Hurst, von Sepp Blatter und Michel Platini im Jahre 1993 enthüllt. Es fehlte in diesem „Promi-Team“ eigentlich nur noch Gottfried Dienst, aber das wäre wohl des Guten dann doch etwas zu viel gewesen.

Auch vier Jahre später, bei der WM 1970, klappte es nicht mit dem Titel, als Italien im „Jahrhundertspiel“-Halbfinale die Deutschen mit Uwe Seeler mit 4:3 nach Verlängerung schlug. Doch obwohl Seeler so ohne internationalen Triumph blieb, so machte ihn auch der Umgang mit großen Niederlagen zur Legende.

Seeler und die Queen von England

„Gewinnen wollen, aber verlieren können“, dieses Motto hatte ihm in jungen Jahren sein Trainer Günther Mahlmann eingetrichtert. Und gerade Seelers Verhalten während des Endspiels im Wembley-Stadion und danach ließen ihn zu einem großartigen Fußball-Botschafter Deutschlands werden in einer Zeit, als für Nationen wie England die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs noch stark nachwirkten.

Für den „Spiegel“ sprach Broder-Jürgen Trede 2016, 50 Jahre nach Wembley, mit Seeler über jenes Spiel. Und dieser wusste noch, dass die Mannschaft vor dem Anpfiff extra von Helmut Schön darauf hingewiesen worden sei, dass die Queen da sei. „Vor ihren Augen würde allzu großes Lamentieren und aggressives Auftreten keinen guten Eindruck machen“, sagte Seeler. Und so verhielt er sich auch.

Als Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath anfingen, mit Linienrichter Bachramow zu diskutieren, sprach Seeler ein Machtwort: „Hört auf zu protestieren, der Schiedsrichter hat entschieden!“ Nur 50 Sekunden vergingen deshalb zwischen dem Schuss von Hurst und dem Anstoß.

Den Lohn für den Einsatz und das sportliche Verhalten erhielten Seeler und seine Mitspieler direkt nach dem Abpfiff. Als sich das deutsche Team zu einer Ehrenrunde aufmachte, applaudierten nicht nur die Anhänger der DFB-Auswahl, sondern auch die englischen Fans. Lautstark.

Wembley, das ist ein Mythos, dieser Ort atmet Fußballgeschichte. Für Uwe Seeler war dieses Stadion der Ort seiner schlimmsten, seiner bittersten Niederlage, aber mit seinem Verhalten gewann er die Herzen von Millionen Menschen, was vielleicht mehr wert war als ein Titel.

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