Hamburg. Der langjährige Abendblatt-Sportredakteur Dieter Matz schreibt über seine besondere Beziehung zu Uwe Seeler.
Uwe war nicht nur ein überragender Mittelstürmer, nicht nur ein großes Fußball-Idol und ein absolutes Vorbild für die Jugend, er war vor allen Dingen eines: ein fantastischer Mensch. Ich durfte ihn über meinen Beruf als Redakteur das Hamburger Abendblatts näher kennenlernen, und ich hatte das große Glück, dass wir in den letzten Jahren echte Freunde geworden sind. Ich durfte dem privaten Uwe Seeler, abseits des Fußballs und des Fußballgeschäftes, sehr nahe sein, erlebte viele seiner Höhen, auch einige Tiefen – aber er ist sich immer treu geblieben.
„Für mich ist es völlig normal, ein ganz normaler Mensch zu sein“, hat er immer wieder gesagt. Keine hohle Phrase, er hat sich in jeder Lebenslage daran gehalten. Uwe war ein ganz feiner Kerl, ein ehrlicher, bescheidener, fairer, auch großzügiger, immer humorvoller und herzlicher Weltstar. Einen wie ihn wird es vielleicht nie wieder geben, er hinterlässt eine riesige Lücke. Ich trauere mit seiner Ehefrau Ilka und mit der gesamten Familie. Und meine Fußballwelt wird ohne ihn nie wieder so sein, wie sie einst war. Er fehlt.
Wie Dieter Matz Uwe Seeler begegnete
Am 18. Oktober 1958 sah ich Uwe erstmals live. In der Oberliga Nord spielte Bergedorf 85 gegen den HSV. Ich war einer von 27.000 Zuschauern im Billtalstadion und verliebte mich auf Anhieb in die junge Mannschaft des HSV. 1:0 führte Bergedorf, doch der HSV gewann auf Grandboden noch 4:1 – ein Tor erzielte Uwe Seeler.
Als wir eine Wohnung in Barmbek erhielten, zogen wir von Bergedorf nach Hamburg, und ich sah am 8. August im Alter von zehn Jahren mein erstes Spiel am Rothenbaum: HSV gegen Werder Bremen. Halbfinale im Nordpokal, es endete 9:1 für die Rothosen, für die Klaus Neisner viermal und Uwe Seeler dreimal traf. Von diesem Tage an war ich bei fast jedem Heimspiel des HSV dabei, und ich saß auf der alten Holztribüne auch oft beim Training.
Uwe war fast immer der letzte Spieler, der in die Kabine ging, meistens übte er noch am Kopfballpendel. Und zwar nicht nur Kopfbälle, sondern auch Volleyschüsse und Fallrückzieher, seine Spezialität.
Uwe Seeler war berüchtigt für Wutausbrüche auf dem Platz
Wenn sich Fußball-Fans, speziell die des HSV, noch an die Oberliga-Spiele erinnern, dann werden sie einen Uwe Seeler im Gedächtnis haben, der nicht immer nur lieb, nett und zuvorkommend war. Wenn es nicht lief beim HSV, dann mischte Uwe sein Team ganz gehörig auf. Er nörgelte, er schimpfte, er meckerte, er pöbelte. Sein Markenzeichen war dann ein hochroter Kopf. Und alle Mitspieler und die Fans im Stadion wussten dann, was die Stunde geschlagen hat.
Wenn Uwe laut wurde, dann war nicht gut Kirschenessen mit ihm. Alle hatten erkannt, dass sie sich nun gewaltig zusammenreißen mussten, um die dicke Luft, die sich über dem Rasen breitgemacht hatte, in die Atmosphäre zu schicken.
Ich habe mit ihm auch einige Male über „diesen etwas anderen Uwe“ gesprochen. Er gab zu, dass er während der 90 Minuten nicht immer friedlich war, dass er auch seinen Kollegen ein äußerst unbequemer Antreiber gewesen ist, dass er mitunter richtig laut und unangenehm werden konnte.
Wenn wir uns darüber in aller Ruhe unterhielten, hatte ich das Gefühl, dass ihm Jahrzehnte später so manches Wort und auch einige sehr emotionale Gesten doch recht leidgetan haben. Und er sagte, ebenfalls halb entschuldigend: „In der Kabine war das aber alles immer schnell vergessen.“ Sie haben es ihm nie verübelt – weil alle wussten, was Verteidiger Gerhard Krug einmal im Fernsehen gesagt hat: „Ohne Uwe wären wir nur eine Durchschnittsmannschaft gewesen.“
Uwe Seeler – ein Vorbild für Dieter Matz
Uwe wurde mein Vorbild. Auch in Sachen Meckern auf dem Platz. Und ich wollte so köpfen können wie er, habe fast täglich Fallrückzieher geübt, wollte ein Kämpfer sein wie er. Er war für mich der Größte. 1980 durfte ich dann mein erstes Interview mit meinem Idol führen. Er begrüßte mich in seinem Büro überaus herzlich und genau so, wie er es immer wieder gesagt und versprochen hatte: völlig normal. Was für ein Mann! Was für ein Mensch! Einmalig. Nicht den kleinsten Hauch von Star-Gehabe, nicht den geringsten Ansatz von Arroganz und Überheblichkeit.
Und ich dachte bei diesem ersten persönlichen Treffen daran, wie ich Uwe Seeler einst erlebt habe. Wie konnte es sein, dass einer wie er zwei Gesichter hat? Meckernd und pöbelnd auf dem Rasen, die Herzlichkeit in Person im Privaten. Oft genug habe ich daran gedacht, dass es ein unglaubliches Privileg ist, dass ich diese nette, offene, zuvorkommende und auch liebevolle Seite von Uwe kennenlernen durfte.
Nur einmal noch erlebte ich einen äußerst angefressenen und lautstarken Uwe – das war zu seiner HSV-Präsidenten-Zeit. Er geriet, weil es nicht besonders gut lief für den Verein, sportlich wie wirtschaftlich, in die Kritik der Medien. Und bat zur Pressekonferenz. Auf der wurde er richtig schön laut, und drohte mit hochrotem Kopf allen Pressevertretern: „Ihr werdet euch noch wundern, ich kann auch anders ...“ Konnte er nicht. Es blieb bei dieser einmaligen Drohung.
Als Uwe Seeler und Dieter Matz Freunde wurden
Immer wieder liefen wir uns in den folgenden Jahren über den Weg. Beeindruckend war es, wenn es mit der Nationalmannschaft auf Reisen in die ganze Welt ging. Überall, wo er auftauchte, wurde er umjubelt, gefeiert, hofiert. Ihn kannten sie alle. Überall. Und er beglückte sie mit seiner Menschlichkeit. Ein Weltstar zum Anfassen. Und ein großartiger Botschafter für die Bundesrepublik.
2014 wurden wir Freunde. Bis dahin hatten wir uns immer brav gesiezt. Während fast alle Kollegen und auch fast jeder Fan das Mittelstürmer-Idol per Du ansprach, gab es zwischen uns immer den Abstand per Sie. Der Grund war simpel: Ich hatte einfach viel zu viel Respekt vor dem großen Uwe Seeler und seiner Lebensleistung.
Erst als er mir einmal ein Buch signieren sollte, brach das Eis. Der Ehrenspielführer fragte mich: „Was soll ich denn schreiben? Dieter oder Herr Matz?“ Ich blieb dabei: „Herr Matz.“ Ein paar Tage später aber hielt ich mich wieder einmal beruflich im Büro Seeler auf, und Ehefrau Ilka beschied mir: „Jetzt geh mal zum Chef, ihr müsst das jetzt mal mit dem Du über die Bühne bringen, nun regelt das mal.“
Seeler und Matz: Mit Kaffee zu Freunden
Tochter Kerstin kündigte mich laut rufend bei Uwe an – und dann stand ich vor ihm. Fast ein wenig entschuldigend sagte er mir: „Wir können aber nicht mit Schnaps anstoßen, es gibt hier keinen Alkohol.“ Büroleiterin Kerstin brachte uns dann Kaffee, mit den Kaffeetassen stießen wir an – der Beginn einer großartigen Freundschaft.
Da wir nur zwei Kilometer Luftlinie in Norderstedt auseinander wohnten, sahen wir uns recht häufig. Ich lernte „Uns Uwe“ immer besser kennen, er war für mich der Prototyp des „besten Mannes der Welt“. Natürlich war Fußball das Thema Nummer eins. Staunend stand ich oft vor ihm und fragte immer wieder: „Uwe, wie konnte es angehen, dass du mit deinen 1,69 Meter die größten Riesen übersprungen hast? Das geht doch gar nicht!“
Er antworte dann immer schmunzelnd: „Dieter, das war erstens meine Sprungkraft, und zweitens mein Timing. Darauf kommt es nämlich an, nur wird daran heute von den Trainern kaum noch gearbeitet. Heute muss ein Profi schon perfekt sein, wenn er einen Vertrag bekommt, gearbeitet oder gefeilt wird an ihm nicht mehr.“
Wie hart Uwe Seeler angegangen wurde
Ein Dauerthema war für mich auch die Härte seiner damaligen Gegenspieler. Auf Uwe warteten meistens die Doppelstopper – zwei Kanten, die mit äußerster Härte, manchmal auch Brutalität, gegen ihn zu Werke gingen. Werder Bremen hatte davon einige Spielertypen, doch ausgerechnet mit ihnen pflegte Uwe ganz enge Freundschaften.
Einen ganz besonderen Fall nahm ich hin und wieder zum Anlass, ihn zu fragen: „Uwe, wie war das damals mit Luggi Müller von Nürnberg, der später auch in Mönchengladbach dein Gegenspieler war. Der hat getreten, gekniffen, gezerrt, gehalten und gefoult, dass es nicht mehr feierlich war – und dieser Müller ist einer deiner besten Freunde geworden. Mit so einem, der dir nur auf die Stöcker haut, würde ich ja niemals mehr ein Wort wechseln ...“
Uwe lächelte dann und antwortete: „Privat ist der Luggi ein Pfundskerl, mit dem man Pferde stehlen kann. Und ich konnte Fußball und Privat gut trennen, wir haben mit den Müllers sogar zusammen Urlaub gemacht, und auch mit unserer Freundesgruppe, den Schneeforschern, so manche Feier gehabt – mit Hochstimmung.“
Uwe Seeler freute sich über Eichhörnchen
Genau so war Uwe. Nachtragend war nicht seine Art. Er sah in erster Linie nur das Gute im Menschen. Und er liebte die Natur. Kam ich in sein schmuckes Häuschen in Norderstedt, schwärmte er mir vor: „Dieter, komm mal mit in den Garten – sind diese Rosen nicht herrlich?“
Oder er freute sich, wenn die Eichhörnchen von Baum zu Baum sprangen, wenn die Hunde von Tochter Frauke über den Rasen liefen, oder wenn die Vögel aus der Wasserschale tranken. Für all diese Sachen hatte Uwe ein Auge.
Und im Gegensatz zum Fußball blieb er privat immer die Ruhe selbst. Klingelten Fans an seiner Tür, erfüllte Uwe die Autogramm- und Selfie-Wünsche mit einer bewundernswerten Gelassenheit. Wobei er nie vergaß zu lächeln. Und stets versuchte er mit einem lustigen Spruch die verkrampfte Szenerie zu entspannen. Es gelang ihm meisterhaft.
Uwe Seeler hat nie gejammert
Sein Lieblingsspruch für die jungen Fußballer, die ihn nach seinen Tricks als Stürmer fragten, war: „Wenn du nicht weißt, wohin mit dem Ball – dann schieß ihn ins Tor!“ Und jedes Mal gab es Gelächter. Auch darin war er profihaft. Ich hab es ihm mehrfach gesagt, ich habe es auch seiner Ilka oft erzählt: „Uwe ist ein richtiger Medien-Profi geworden. Mit seinem unschlagbaren und trockenen Humor hat er viele Sendungen gerettet und gut enden lassen. Dafür hat er ein ganz feines Händchen.“ Und er war ein Gentleman. Wenn wir uns verabschiedeten, dann vergaß er nicht einmal zu sagen: „Grüße an die Gattin.“ Oder: „Grüße bitte deine Frau Gemahlin.“ Und: „Fahr schön vorsichtig.“
Was manche überraschen wird: Uwe trank keinen Schnaps. Ich habe es jedenfalls nie erlebt, er lehnte immer dankend ab und genoss ein kühles Bier. Beim Essen schien er immer dann besonders zufrieden zu sein, wenn es Hausmannskost gab. Würstchen, Königsberger Klopse, Bratkartoffeln und auch Kartoffelsalat liebte er. Und eine besondere Curry-Suppe, die er immer in einem kleinen Restaurant am Niendorfer Markt aß. Nur Fisch kam ihn nie über die Lippen – er hasste Gräten.
In seinen letzten Monaten erlebte Uwe immer wieder schwere Rückschläge. Er fiel oft aus heiterem Himmel um und zog sich schlimme und schwerste Verletzungen zu. Und trotz allem: Er jammerte nie, er haderte nie, er blieb immer optimistisch, und er behielt immer seinen trockenen Humor. „Ich komme wieder auf die Beine, denn der HSV braucht mich ja, ich muss schon bald wieder spielen und Tore schießen ...“ So hat er bis zuletzt gescherzt.
Auch interessant
Auch interessant
Uwe Seelers schlimme Stürze
Ich habe vor allem Ilka und die tapfer kämpfenden drei Mädchen, die natürlich längst im Leben stehende erwachsene Frauen sind, bewundert, wie sehr sie sich um Uwe gesorgt und gekümmert haben. In den letzten Monaten riss die Pechsträhne im Hause Seeler nicht ab. Uwe stolperte und fiel mit dem Gesicht in ein Tablett mit Tellern und Tassen, er zog sich schwerste Schnittwunden im Gesicht und am Kopf zu – und trotz allem ließ er sich nie auch nur eine Stunde, nein, nie eine Minute unterkriegen.
Das Stolpern war ein Grund für die vielen Verletzungen und Wunden am ganzen Körper, aber oft fiel er plötzlich und ohne jede Vorwarnung um. „Ich kann mir das selbst nicht erklären, auch der Doktor nicht, ich habe plötzlich einen Blackout und bin für Sekunden weg“, hatte mir Uwe noch vor drei Wochen gesagt.
Dennoch hat er stets gehofft, wieder vollständig auf die Beine zu kommen. So war er immer. Ein Kämpfer, der nie aufgibt. So schlimm es mit den Verletzungen war, er lebte seinem Umfeld immer seinen grenzenlosen Optimismus vor.
Vor drei Wochen stürzte er und brach sich einen Finger, trug Arm und Hand in Gips. Nachdem er den Gipsverband abgelegt hatte, trainierte er schon wieder seine rechte Hand – er wollte die vielen Autogrammwünsche erfüllen. Vor zwei Wochen dann fiel er in der Küche hin und brach sich das Schlüsselbein. Eine schwierige Verletzung, er konnte den rechten Arm nicht mehr bewegen.
Uwe Seeler bekam schlechter Luft
Im Krankenhaus fiel er dann auch noch aus dem Bett. Was ihm bei dieser Hitze aber besonders schwer zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er immer schlechter Luft bekam. Was in dieser schweren Lage total außergewöhnlich, aber für ihn typisch war: Vom Krankenbett aus gratulierte der schwer angeschlagene Uwe meiner Frau Helga zum Geburtstag. Dafür musste noch Zeit sein – unvergessen und bemerkenswert.
Nun ist Uwe für immer eingeschlafen. Er war nicht nur der Held meiner Jugend, er half jedem, der in Not geraten war, dafür hatte er die Uwe-Seeler-Stiftung gegründet. Der Himmel kann sich freuen, denn Uwe wird ganz sicher der beste Neuzugang, den es dort seit Jahrzehnten gegeben hat. Mach es gut, mein Uwe, du warst ein großartiger Freund, ich werde dich immer vermissen und nie vergessen!