Hamburg. Warum ihn sogar Kinder verehrten, die ihn niemals spielen sahen – eine Erinnerung an einen Ausnahmesportler und Menschen.
Es war kurz vor Uwe Seelers 80. Geburtstag im November 2016. Ein ganz normaler Wochentag in einer normalen Sporthalle in Hamburg. Ganz normale Mädchen und Jungs kickten mit ihren Schulmannschaften um den Uwe-Seeler-Pokal. Es war ein spannendes Turnier, doch das eigentlich Überraschende ereignete sich nach dem Abpfiff: Die Deerns und Buttjes, meist zwischen zwölf und 14 Jahre alt, standen Schlange, um vom Schirmherrn des Wettbewerbs ein Autogramm zu erhaschen.
Und Uwe schrieb und schrieb und schrieb. Mit Engelsgeduld, immer mit einem kleinen Spruch garniert, mit aufmunternden Worten oder einem Schulterklaps.
Nachruf auf HSV-Idol Uwe Seeler
Ein paar Monate zuvor, im Frühjahr 2016, auf dem Parkplatz vor dem Volksparkstadion, das endlich wieder so heißen darf. Ein normales Bundesligaspiel gegen einen ganz gewöhnlichen Gegner an einem Sonnabend, wie es ihn viele gibt. Diesmal waren es Erwachsene, die den älteren, eher klein gewachsenen Herrn mit dem schütteren Haar neben einem silberfarbenen Mittelklasse-Mercedes entdeckten. Im Nu wurden es immer mehr, die dort standen, guckten und nach seiner Unterschrift fragten.
Und Uwe schrieb und schrieb und schrieb. Profis der Neuzeit hätten es der Kameras wegen gemacht, doch Seeler tat es für die Menschen.
Schließlich, an einem ganz normalen Dienstag, stille Beobachtung Nummer drei. Ein Steakhaus im ersten Stock eines rot geklinkerten Gebäudes am Hamburger Schlachthof. Zusammen mit drei Freunden nahm ein Herr mit bescheidenem Auftreten an einem normalen Ecktisch Platz. Andere Gäste guckten möglichst unauffällig. Schließlich nahm einer sein Herz in die Hand, trat mit einer Serviette und einem Stift an den Ecktisch und bat um den Schriftzug des Herrn mit der nur oben eingefassten Brille. Jetzt hatten auch andere den Mumm, darum zu bitten. Alles ging klar. Schließlich sagt die Hauptperson fast bittend: „Kinners, lasst mich erst mal futtern, dann geht’s weiter.“ So geschah es dann auch.
Und Uwe schrieb und schrieb und schrieb. „Das Schönste ist es“, sagte er immer wieder, „normal zu sein.“ Wenigen gelang das so wie ihm.
Uwe Seeler: Von Kindern verehrt, die ihn nie spielen sahen
Jetzt, nach dem Tod Uwe Seelers, kommen solchen kleinen Beobachtungen eine größere Bedeutung zu. Denn normal waren sie überhaupt nicht; sie waren außergewöhnlich. Und es fragt sich: Was war das für ein Mensch, dem die Herzen in solchen Maßen zuflogen? Praktisch ohne Grenzen. Warum verehrten sogar Kinder eine Fußball-Persönlichkeit, den sie niemals spielen sahen?
Und, sehr entscheidend: Was macht eigentlich ein Idol aus? Und was ist der Unterschied zwischen einem, den man respektiert oder sogar hoch schätzt, und einem, den man mag, so richtig gerne mag? Die Hansestadt Hamburg hatte und hat Ehrenbürger, denen höchste Anerkennung gezollt wurde oder wird, doch keiner war derart intensiv in den Herzen der Menschen verwurzelt wie der äußerlich unscheinbare Mann mit Geburtsort Eppendorf. Sein Spitzname sagt alles; „Uns Uwe“, einer aus dem Volke. Einer, der stets mittenmang war. Einer von uns.
Zuletzt hatten wir vier lebende Ehrenbürger; jetzt sind es leider nur noch drei.
Seeler drohte nach Verletzungen das Aus
So kitschig es klingen mag, es trifft: Fußball war Uwe Seelers Leben. Es basierte auf Anhänglichkeit – seinem Verein, seiner Stadt und den Menschen gegenüber. Tore, Titel und Triumphe des ein bisschen krummbeinigen Mittelstürmers mit dem formidablen Torriecher sind unvergessen.
Vor mehr als 60 Jahren erlebte Hamburg einen Ansturm erster Klasse: Anno 1954 spielte Uwe Seeler, jüngster Sohn des Schutenführers Erwin und der Schwimmerin Anny, das erste Punktspiel für seinen HSV und das erste Mal für Deutschlands Nationalmannschaft. Es folgten Tore in Serie, bittere Niederlagen, vier Weltmeisterschaften und Volltreffer, die Fußballgeschichte schrieben. Nicht nur einmal drohte Seeler nach Verletzungen und Unfällen das Aus.
Uwe Seeler blieb dem HSV treu
Treue durchzog Seelers Leben wie ein roter Faden. Mehr als 67 Jahre war er Mitglied seines HSV, 50 Jahre arbeitete er für eine Firma, weit mehr als ein halbes Jahrhundert führte er eine erfüllende Ehe, ebenso lange wohnte er im selben Haus. Nur einmal ging er kurz fremd: bei einem Gastspiel für Celtic Cork in der irischen Profiliga. Zum privaten Glück seiner Großfamilie zählte ein Hattrick, der für ihn mehr Bedeutung hatte als jedes noch so glorreiche Tor: Die drei Töchter wohnten mit ihren Familien in direkter Nachbarschaft.
Schmerzhafte Verluste wie der frühe Tod seines älteren Bruders oder seltene Eigentore außerhalb des Rasens haben an seiner von Grund auf positiven Einstellung nichts geändert. Dieses hanseatische Naturell, diese Bodenhaftung haben den Mann mit dem Elbsegler mehr als 80 Jahre begleitet und geprägt. Nein, verbiegen ließ er sich nie. Hochnäsigkeit war ihm von jeher ein Fremdwort. Seine Stärke war Verlässlichkeit. Da mochten sie aus dem Ausland mit einem Vermögen locken: Uns Uwe blieb lieber tohuus. In Hamburg.
Bei der Spurensuche nach den Ursachen des Phänomens „Uns Uwe“ helfen vier Schlüsselmomente, die Entwicklung eines einmaligen Mannes zu verstehen ...
Uwe Seeler stand auf Knackwurst mit Senf
Früh lernte Uwe, Geburtstag 5. November 1936, was eine Raute ist: Schon als Kleinkind nahmen ihn seine Eltern mit ins Stadion an der Rothenbaumchaussee. Laut und lustig ging’s dort zu. Zu Hause am Winzeldorfer Weg in Eppendorf führte Anny Seeler das Kommando. „Ich war der Zuckerjunge und wurde ordentlich verwöhnt“, erinnerte sich Uwe Seeler an seine Kindheit. Trotz der Wirren und bevorstehender Dramen waren es für ihn relativ unbeschwerte Tage. Musste Erwin nicht zur Schicht in den Hafen, saß die Familie in der winzigen Zweizimmerwohnung zwischen Frickestraße und Lokstedter Weg zusammen.
In Haus Nummer 16, im vierten von sechs Stockwerken, wohnten die fünf Seelers. Plus Mitbewohner Günther Wolf, Mutter Annys Bruder. Im Vergleich zu vielen anderen ging es den Seelers gut. „Auf dem Tisch stand immer etwas Anständiges“, sagte Uwe Seeler rückblickend über die Jahre zwischen seiner Geburt, dem Zweiten Weltkrieg, Zusammenbruch und Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949. Er selbst hatte zeitlebens ein Lieblingsgericht, das zu ihm passte: Hamburger Knackwurst mit Senf.
Während Schwester Gertrud, von Freunden ausschließlich „Purzel“ genannt, im Schlafzimmer der Eltern nächtigte, schliefen Uwe und sein fünf Jahre älterer Bruder Dieter auf zwei Bettsofas in der Küche. Dort stand auch ein großer Kohleherd, der zudem als Heizung fungiert. Hinzu kamen ein Tisch und sechs Stühle. Das war’s.
Der erste Sieg seines Lebens
Im Badezimmer gab es weder warmes Wasser noch Dusche. In Kannen schleppte Mutter Anny heißes Wasser heran, wenn die Kinder in die Wanne mussten – nach festem Takt, einer nach dem anderen. Anny hatte reichlich zu scheuern und bürsten, damit die Sprösslinge wieder sauber wurden. Denn darauf legten die Eltern enormen Wert. Die Klamotten konnten geflickt oder genäht sein, wichtig waren Sauberkeit und Ordnung.
Drei Tage hielt es der kleine Uwe im Kindergarten aus, dann war Schluss mit lustig. In einem unbeobachteten Moment zischte er aus dem Raum, griff sich nebenan seine Jacke, öffnete die Tür und raste heimwärts. Die Flucht indes wurde bemerkt, und zwei Betreuerinnen nahmen die Verfolgung auf. Vielleicht spürte Uwe in diesem Moment erstmals so richtig, was in ihm steckte. Er brachte seine kleinen Beinchen mächtig in Schwung und hielt die Erwachsenen auf Distanz. Fazit: In den Kindergarten brauchte Uwe nicht mehr zu gehen. Gewonnen. Der erste Sieg im Leben.
Seeler als Kind: Warten auf Schulschluss
Der Zweite Weltkrieg raubte Hamburg die Luft zum Atmen. Im Sommer kamen die Jungs oft barfuß in die Schule. Das Schuhwerk musste für den Winter geschont werden. Nahte die kalte Jahreszeit, fiel manchmal der Unterricht aus – keineswegs zur Betrübnis von Uwe und seinen Kumpeln. Es gab kaum Kohle zum Heizen, sodass es in den Räumen zu kalt war. Erbärmliche Zustände.
Spitzenleistungen vollbrachte Uwe stets, wenn die Schulsirene erklang, also quasi Abpfiff war. Dann begann für ihn das richtige Leben: auf zum Bolzen mit den Freunden. Leichter gesagt als getan. Denn es mangelte an allen Ecken, vor allem am Spielgerät, einem Ball. Auch Schuhe waren Mangelware. Wer halbwegs anständige hatte, musste sorgsam damit umgehen und sie für den Sonntag schonen. Die Seelers glaubten im Prinzip an den lieben Gott, waren allerdings keine Kirchgänger. Entsprechend wurden die Kinder auch nicht getauft.
Uwe Seeler – beliebt auf dem Bolzplatz
Eines Tages gab es richtig Ärger und einen zerbrochenen Kochlöffel. Uwe wollte zu den Großen auf die Straße, zum Fußballspielen. Es gab keinen Strom, also eilte er pfeifend – um die Angst zu vertreiben – durchs finstere Treppenhaus, schlich in die Wohnung und öffnete heimlich den Flurschrank. Dort verwahrte „Vadder“ Erwin seine Schätze: gut erhaltene Fußbälle aus Leder, vom HSV gestellt. Er nahm sie mit zum Training oder zum Punktspiel.
Uwe griff sich eines der Luxusstücke und rast wie ein Wirbelwind nach unten. Dort, bei den Älteren, genoss er es, umjubelter Held zu sein. Zusätzlich brachte er die größeren Jungs mit Flugkopfbällen und Fallrückziehern zum Staunen – sogar auf dem steinharten Grund. Kein Wunder, dass Klamotten und Schuhe dran glauben mussten. Oben bei Muttern hieß es nur: „Umdrehen!“ Die Schläge mit dem Kochlöffel, heute unvorstellbar, damals an der Tagesordnung, taten in Maßen weh. Das Vergnügen am Bolzen auf der Straße nahmen sie keineswegs. Misslicher als jede Tracht Prügel waren für Uwe knallharte Sanktionen wie Stubenarrest oder zusätzliche Hausarbeiten für die Schule.
Viel wichtiger für Uwe: Er durfte fortan bei den Großen mitspielen. Er dribbelte wie ein kleiner Weltmeister und erzielte die schönsten Tore. Immer wieder. Und zunehmend wiederholte sich ein Ritual, das Uwe mit stolzgeschwellter Brust dastehen ließ. Wenn die Kapitäne der jeweiligen Straßenmannschaften zu Beginn der Bolzpartie ihre Spieler wählten und die Aufstellung ausknobelten, hieß es immer öfter: „Ich nehm den Lütten!“. Uwe war gemeint.
Wie Uwe Seeler zum HSV kam
„Vadder“ Erwin hatte Verständnis für die Umtriebe des Nachwuchses, schließlich hatte er es früher in Rothenburgsort nicht anders getrieben. Er mochte keine Stubenhocker. Zwischen den Trümmern wurden Tore aus Backsteinen errichtet. Auf dem Grundstück eines zerstörten Hauses an der Frickestraße, in einer Höhle, errichteten die Jungs ihr Klubhaus. Sie schichteten eine Mauer auf, setzen ein Blechdach darauf. Fertig.
Weihnachten 1945, endlich war Frieden, wurde in bescheidenem Rahmen begangen. Dass es für Uwe dennoch ein Fest wurde, hing mit einer Entscheidung des Familienrates zusammen. Vor versammelter Mannschaft verkündete Senior Erwin: „Mit Bolzen auf der Straße ist jetzt Schluss, mien Jung. Du musst in einen richtigen Verein. Du musst zu unserem HSV.“ Immer wieder hatten die Eltern versucht, ihren Lütten mit Bilderbüchern oder Gesang oder Basteln zu locken. Null Chance.
Für Uwe begann das Jahr 1946 mit einem Gang, der sein Leben entscheidend prägte: An der Seite seines Vaters ging er zu Fuß von Eppendorf an die Rothenbaumchaussee, um die HSV-Mitgliedschaft zu beantragen. Der Junge erhielt einen richtigen Ausweis. Nummer 1725. Dieser hatte bis zuletzt Gültigkeit. Stolz marschierte Uwe heimwärts. In den folgenden Stunden gab es eine Menge zu tun: Der Buttje ging durch die Nachbarschaft, um das Papier seinen Freunden zu zeigen. Ja, jetzt war er eine Rothose. Uwe hatte eine zweite Familie gefunden. Sein Glück war unbeschreiblich.
Sein Glücksgriff: Ehefrau Ilka
Den Jahreswechsel 1953/54 wollten die Jungmannen des HSV, die heutige A-Jugend, nicht unter sich feiern. Die Handball-Mädchen des Vereins wurden gewonnen. Die Party stieg auf dem HSV-Gelände am Ochsenzoll. Aus heutiger Sicht drehte es sich im Restaurant Lindenhof um eine höchst gesittete Veranstaltung. Luftschlangen, Luftballons und so.
Ein bisschen Kalte Ente, eine harmlose Mischung aus Mineralwasser und Wein, war das Höchstmaß der Gefühle. Es gab ein Büfett mit Frikadellen, sauren Gurken, Rollmöpsen und Käse-Igeln für 40 Personen, Musik, Tanz, Ringelpiez, aber bitte ohne allzu direktes Anfassen. Die Nacht verbrachten die Gäste in den Pritschenbetten der Herberge. Selbstverständlich getrennt.
Natürlich war auch Uwes ältere Schwester Gertrud vor Ort. Sie saß mit einer fröhlichen blonden Leichtathletin und Feldhandballfreundin an einem Tisch. Vom Sehen kannte Uwe sie, aus dem HSV-Klubhaus. Der 17-Jährige nahm sein Herz in die Hand: Ja, Ilka, so hieß die Gute, willigte für ein paar Tänze ein. Obwohl Uwe auf dem Rasen als Großer galt, war der Flirt mit jungen Damen nicht eben seine Spezialdisziplin. An mehr als ein bisschen Tanz war jedoch nicht zu denken. Uwe war alles andere als ein Pistengänger und Schürzenjäger.
Ein paar Wochen später hatten sich Uwe Seeler und sein Freund Klaus Stürmer zu einem Kinobesuch im Holi an der Hoheluftchaussee verabredet. Dort stand ein Western auf dem Programm. Zudem bot der Abend die Möglichkeit, Ilka einen kurzen Besuch abzustatten. Sie wohnte bei ihren Eltern in der Isestraße 79, nur ein paar Schritte vom Lichtspielhaus entfernt.
Als Uwe Seeler Ilka heiratete
Uwe ging die „Düse hoch hundert“, wie er später bekannte – mehr als bei jedem Elfmeter seines Lebens. Mit vor Aufregung geröteten Wangen und ganz hibbelig wippte er vor der Haustür von einem Bein auf das andere. Warum auch immer, wahrscheinlich zum Selbstverzehr im Kino, hatte Uwe ein Tafel Schokolade dabei. Nachmittags am Eppendorfer Baum gekauft. Mit dieser Munition bewaffnet, wagte er schließlich doch den Aufstieg. Nach einer halben Stunde war er wieder zurück. Uwes roter Kopf sagte alles: Es hatte gefunkt! Sogar den ersten Kuss hatte es oben gegeben. Auf die Wange. Darüber indes sprach Uwe Seeler bis zu seinem Tod nicht so gern. Auch im hohen Alter wirkte er dann genierlich.
1957 verlobten sich Ilka und Uwe. „Mäuschen“ nannte sie ihn erst später. Das genaue Verlobungsdatum ist in beider Ehering graviert: 19. September 1957. Beide liebten sich nicht nur, sondern hatten auch privat die gleichen Ziele: stabile Verhältnisse auf Basis eines bescheidenen Wohlstands, ein kleines Häuschen, eines Tages Kinder.
Die Hochzeit folgte am 18. Februar 1959. Uwe Seeler hatte sich zuvor taufen lassen. Der Polterabend wurde bei den Bucks in der Isestraße gefeiert. Die kirchliche Zeremonie fand in St. Johannis statt. Vor dem bis auf den letzten Platz besetzten Gotteshaus warteten mehr als 1000 Hamburger, um das Paar hochleben zu lassen.
Bürgerlich gefeiert wurde, na wo wohl, im HSV-Klubhaus am Rothenbaum. Als „Vadder“ Erwin das Wort ergriff, hatte nicht nur er einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Eine Hochzeitsreise gab es nicht. Denn gereist wurde ohnehin reichlich – mit dem HSV und mit der Nationalmannschaft.
Ja zu Hamburg – Nein zum großen Geld
Mit seinem HSV stürmte Uwe Seeler in Europa nach oben. Im Halbfinale gegen den großen FC Barcelona ging es im Frühjahr 1961 um die Endspielteilnahme. Beide Duelle gingen in die HSV-Geschichte ein. Wegen der Spiele, wegen des unglücklichen Ausscheidens der Hamburger, aber auch wegen der Begleitumstände, die Uwe Seelers Ruhm nährten und ihn lebenslang zum Helden machten.
Seelers Torinstinkt lenkte die Blicke anderer europäischer Clubs Richtung Hansestadt. Zum Beispiel den des reichen Vereins Inter Mailand. Damals waren ausländischer Legionäre sehr selten im Profifußball. Der Auftrag des Mailänder Ölindustriellen und Präsidenten Angelo Moratti an seinen Trainer Helenio Herrera: Nur Titel zählen! Geld spielte dabei keine Rolle. Und um an die Spitze zu kommen, hatte Herrera sich ein kühnes Ziel gesetzt: Er wollte Uwe Seeler, den Goalgetter des Hamburger SV und deutschen Star der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden, nach Mailand holen. Koste es, was es wolle.
„Uwe, komm mal bitte ans Telefon“, sagte Ilka Seeler eines Abends. „Da ist ein Herr aus Italien, der dich sprechen möchte.“ Spielerberater gab es damals noch nicht. Der Herr aus Italien kam ohne Umschweife zur Sache: Wenn Seeler seinem Lockruf folge, würden er und seine Familie sich nie wieder im Leben finanzielle Sorgen machen müssen. Neben einem lukrativen Dreijahresvertrag, einer Villa in bevorzugter Lage, Auto, Chauffeur, Kinderbetreuung, weiteren Bediensteten und jedem erdenklichen Luxus sollte es – quasi als Appetithäppchen – eine halbe Million D-Mark auf die Hand geben. Vor mehr als einem halben Jahrhundert war diese Summe ein unvorstellbares Vermögen.
Kein Wunder, dass der 24 Jahre alte Hamburger interessiert war. Seinem Charakter entsprechend verzichtete er auf Tricks und spielte mit offenen Karten.
Inter lockte mit Geld – Seeler wurde schwindlig
Konsequenz dieses geraden Weges: Sowohl der Heimatverein HSV als auch Bundestrainer Sepp Herberger wussten um das Buhlen der Italiener. Seeler durfte mehr oder weniger die Summe bestimmen und brauchte nur den fertigen Vertrag zu unterschreiben. Neben dem Handgeld, das sich auf 900.000 Mark erhöht hatte, winkten dreimal 500.000 Mark Jahresgehalt, Prämien und so weiter. Heutzutage entspricht das vielen Millionen Euro.
Uwe wurde ganz schwindelig. Nie zuvor gab es ein so traumhaftes Angebot für einen deutschen Sportler. In Seelers Brust schlugen zwei Herzen. Durfte er ein solches Angebot allein schon mit Rücksicht auf die Absicherung seiner Familie ablehnen? Laut Vertragsspielerstatut des Deutschen Fußball-Bundes durften Oberliga-Spieler seinerzeit maximal 400 Mark im Monat verdienen. Seine Spedition hatte Seeler zwar gerade verlassen und eine Anstellung als Vertreter einer Baustoffgroßhandlung gefunden. Dort verdiente man anständig, doch Reichtümer ließen sich auf diese Art nicht anhäufen. Finanziell würde Italien das Geschäft seines Lebens bedeuten.
Andererseits quälten ihn Ängste. Er war in Eppendorf geboren, kannte in seiner Heimatstadt jeden Meter, war im Verein fest verankert, angesehen und mit einem guten Freundeskreis gesegnet. Wäre er den Intrigen im Umfeld von Inter Mailand gewachsen? Würde er mit der Mentalität und dem gnadenlosen Erfolgsdruck klarkommen?
Mit dem Herzen gegen die Köder aus Mailand
Uwe Seeler erbat Bedenkzeit und brauste mit seinem Ford 12 M aus der Hamburger Innenstadt nach Norderstedt. Ehefrau Ilka nahm ihren aufgewühlten Mann in Empfang, servierte ihm ein Quarkbrötchen, sorgte für Ruhe. „Die Summe ist fantastisch“, sagt sie. „Dennoch muss alles wohlüberlegt sein.“ Liebevoll machte sie ihrem „Dicken“, so Uwes Spitzname im Verein bis ins hohe Alter, klar, dass sie jede seiner Entscheidungen mittragen und ihn natürlich auch nach Mailand begleiten würde. Das letzte Wort habe er zu sprechen.
Seeler fand keine Ruhe. Der Mann, der sonst auch vor großen Spielen wie ein Bär schlafen konnte, wälzte sich im Bett hin und her. Gegen Mitternacht machte er sich zu Fuß auf den Weg und spazierte allein über das HSV-Trainingsgelände. In diesen Minuten mit wahrhaftiger Bodenhaftung reifte sein Entschluss: „Ich bin Hamburger, ich bleibe Hamburger. Ich gehe nicht!“ Basta.
„Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus“, sagte Seeler mit dem Abstand von mehr als 50 Jahren bei einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer seines Hauses in Norderstedt. Letztlich obsiegte 1961 der Wunsch nach Geborgenheit in der Heimat und nach Sicherheit – allen materiellen Verlockungen zum Trotze. Die Überschrift des Hamburger Abendblatts nach Seelers Entscheid sagt alles: „Ein Verzicht ohne Beispiel“. Wer würde in der Neuzeit schon so handeln!
Seine Entscheidung aus dem Bauch heraus und mit dem Herzen gegen die Köder aus Mailand haben seinen Nimbus noch genährt. Bis ganz zuletzt – und gewiss auch über seinen Tod hinaus. Wer Millionen in den Wind schlug, sich und seiner Stadt treu blieb, hatte das Zeug zum Volkshelden.
Uwe Seeler fand auch privat sein Glück
Es folgten stürmische Jahre, beruflich wie privat. Der Erstgeborenen Kerstin folgten nach und nach Helle und Frauke. Auf einmal hatte „Uns Uwe“ vier Frauen im Haus. „Da musste man starke Nerven behalten“, unkte er später. Zu seiner Frau und den drei Töchtern mitsamt Anhang hielt er lebenslang ein inniges, herzliches und vertrautes Verhältnis.
Auch im Fußball ging’s im Sauseschritt voran. Der Meisterschaft mit dem HSV und der Wahl zum Fußballer des Jahres 1960 folgten zumeist grandiose Auftritte in der Nationalmannschaft. Unvergessen ist das legendäre Foto vom Endspiel der Weltmeisterschaft in London mit dem gleichfalls unvergessenen 2:3. Wer das Bild des niedergeschlagenen Mittelstürmers mit dem hängenden Kopf heute betrachtet, kommt an einer Gänsehaut kaum vorbei.
Irgendwie war es immer normal, dass Uwe Seeler in der Stadt und in den Medien präsent war. Doch auch das ist nun leider Vergangenheit.
Uwe Seeler – es gab auch Rückschläge
Natürlich lief bei ihm nicht alles immer in der Erfolgsspur –der Mann war ja kein Heiliger. Am 1. Juni 1968 kehrte er der Nationalmannschaft den Rücken. Knapp vier Monate später kam er zurück. Im September 1970 bestritt er sein 72. und letztes Länderspiel. Am 1. Mai folgte der Abschied vom HSV. Die Koryphäe mit der Rückennummer neun wurde zum Ehrenspielführer der Nationalelf ernannt.
1979 starb sein geliebter Bruder Dieter, fünf Jahre später Mutter Anny. Und im Sommer 1997 musste er Abschied nehmen von seinem „Vadder“. Gut, dass ihm Schwester Getrud blieb. Ehefrau, Töchter, Schwiegersöhne und Enkel standen ihm 2010 nach einem schweren, unverschuldeten Unfall vor dem Elbtunnel zur Seite. 2011 war eine Operation unvermeidlich. Folgen wie massive Hörprobleme konnten nicht beseitigt werden. Dennoch blieb Seeler der alte. Er fungierte immer wieder ehrenamtlich als Schirmherr, spielte Golf, tat mit seiner Stiftung, die von Tochter Kerstin gemanagt wurde und wird, eine Menge Gutes für jene, die weniger auf der Sonnenseite standen. „Ich habe reichlich Schwein im Leben gehabt“, pflegte er immer wieder festzustellen – aus tiefster Überzeugung und mit enormer Dankbarkeit. Bis zuletzt.
Und wenn die Trauerfeier für Hamburgs besonders bodenständigen Ehrenbürger stattgefunden und Uwe Seeler ewigen Frieden gefunden hat, bleiben auch kleine Episoden in Erinnerung.
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So wie die eingangs beschriebenen, aber auch andere. Zum Beispiel seine Stadionbesuche, meist in der Loge eines befreundeten Gastronomen. Nicht selten verließ der HSV-Held im Ruhestand, mit drei oder vier Bier intus und vor Verärgerung hochrotem Bollerkopf, die Arena zutiefst gefrustet. Auch wenn mit seinem Verein viele Jahre kein Staat zu machen war, hielt er ihm unverbrüchlich die Treue. Am gelegentlichen Rumpoltern hinderte ihn das keinesfalls. Dauerhaft in Erinnerung bleiben wird ebenfalls ein Interview für die frühere Sat.1-Sportsendung „ran“ im Trainingszentrum am Ochsenzoll.
Während des gesamten Gesprächs, und dieses war nicht kurz, kratzte sich Uwe Seeler genüsslich eben dort, wo kein Fußballer gern vom Ball getroffen wird. Er tat es intensiv und langanhaltend. Was bei Bundestrainer Jogi Löw während der EM 2016 peinlich rüberkam, wirkte beim Hamburger Urgestein urig. Zigtausendfach wurde der Film im Internet aufgerufen: Für manchen hat er Kultstatus. Und das Beste an dieser Geschichte: Seeler selbst konnte im vertrauten Kreis herzhaft über das Geschehen lachen. Der Mann verstand Spaß.
Seeler wollte nie HSV-Präsident werden
Weniger gut zu sprechen war er rückblickend auf die Ära seiner HSV-Präsidentschaft zwischen 1995 und 1998. Angebliche Freunde hatten ihn, der von Natur aus nur schwer Nein sagen konnte, zum Amt gedrängt. Um es frank und frei zu sagen: In dieser Position war der Sportsmann eine Fehlbesetzung. Er konnte nicht „Uns Uwe“ sein, er musste den Boss mimen. Was auf dem Platz gut ging, scheiterte an der Spitze seines Vereins. Hätte er bloß auf seine Ilka gehört, die mahnte: „Mäuschen, lass die Finger davon.“ Schwamm drüber.
Sein 80. Geburtstag im November 2016 wurde bei einem Senatsfrühstück im Rathaus gewürdigt. Ihm selbst war die Kaffeerunde mit der Großfamilie noch wichtiger. Neben der Haustür daheim am Ochsenzoll hatten Ilka und er stets einen umfangreichen Vorrat an Bonsche und anderem Schleckerkram aufgebaut. Damit die Lütten auf ihre Kosten kamen. Typisch.
Uwe Seeler war ein Großer – nicht nur beim HSV
Nicht nur der HSV konnte froh sein, einen wie Uwe Seeler gehabt zu haben. Weit über die Grenzen Hamburgs und Deutschlands hinaus stand er für untadeligen Sportgeist, für Fairplay, für eine von Grund auf anständige Lebensart. Das haben nicht nur ältere Semester parat, das ist auch den Jüngeren bewusst. Wie der Uwe-Seeler-Pokal an Hamburgs Schulen beweist.
Das wird so bleiben – und eine Menge mehr noch. Ganz bestimmt wird es posthum Ehrungen geben und wahrscheinlich auch eine Uwe-Seeler-Straße, vielleicht am Rothenbaum, am HSV-Gelände in Norderstedt oder direkt im Volkspark. Der wenig pfiffige Name Stadionstraße ist leicht austauschbar.
Und wenn in Zukunft ein Vater mit seinem Kind in die Arena geht, wird er womöglich an riesigen, 2,9 Tonnen schweren Fuß abseits der Nordtribüne innehalten und zu seinem Buttje sagen: „Uwe Seeler war ein Großer, ein ganz Großer.“ Weil er mit dem Ball umzugehen verstand wie kaum ein Zweiter. Aber eben auch, weil „Uns Uwe“ zeitlebens mit beiden Füßen auf dem Boden stand. Er war mittenmang. Und das bleibt so.