Hamburg. Der Hamburger SV steht kurz vor dem Aufstieg. Das ist größtenteils der Verdienst von Trainer Tim Walter. Was das Team auszeichnet.
Tim Leibold versprühte am Freitagnachmittag bereits Vorfreude. Der Linksverteidiger des HSV, der nach seinem Kreuzbandriss wieder mit der Mannschaft trainiert, wurde von einem Reporter beim Training der Reservisten gefragt, ob es am Montag im Relegationsrückspiel des HSV gegen Hertha BSC (20.30 Uhr, Sat.1 und Sky) zu einem Einsatz in der zweiten Halbzeit reichen könnte. „Zur dritten Halbzeit“, sagte Leibold und grinste. Es war Ausdruck der Hamburger Lockerheit, aber auch des Selbstbewusstseins, das der HSV in den vergangenen Wochen aufgebaut hat.
Dass die dritte Halbzeit am Montagabend in Hamburg eine seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesene Party werden könnte, weiß nicht nur Leibold. Noch nie in seinen vier Jahren Zweitklassigkeit stand der HSV so dicht vor der Rückkehr in die Bundesliga. Und nie zuvor in den vergangenen vier Spielzeiten hätten es die Hamburger so sehr verdient, diesen Sprung auch zu schaffen. Und das ist vor allem das Werk eines Mannes: Tim Walter.
Relegation: Leidenschaft zeichnet Walter und den HSV aus
Dem Trainer ist es, anders als allen fünf Fußballlehrern des HSV in der Zweiten Liga vor ihm (Christian Titz, Hannes Wolf, Dieter Hecking, Daniel Thioune und Horst Hrubesch), gelungen, eine Mannschaft zu formen, die dieses Wort auch verdient hat. „Mit Leidenschaft und Kampf zurück zu altem Glanz“, stand am Donnerstagabend im Berliner Olympiastadion in der Kurve der HSV-Fans auf einem großen Transparent. Und genau die Attribute Leidenschaft und Kampf sind es, die den Trainer und sein Team in dieser Saison auszeichnen.
„Wir haben uns fußballerisch enorm weiterentwickelt, aber auch charakterlich“, sagte der 46-Jährige nach dem Spiel, als er kerzengerade und mit stolzgeschwellter Brust auf dem Berliner Pressepodium saß. „Als jüngste Mannschaft der Liga ist es nicht ohne, hier vor 75.000 Zuschauern so zu bestehen“, sagte Walter, während Trainerroutinier Felix Magath wenige Meter neben ihm spürbar angeschlagen versuchte, positive Worte zu finden für den uninspirierten und leidenschaftslosen Auftritt der Berliner, die ihren Fans wenig Anlass zur Hoffnung gaben, dass sie sich am Montag im Rückspiel in einem gänzlich anderen Zustand präsentieren werden. „Der HSV hat auch erstklassig gespielt heute“, sagte Magath, hätte das „auch“ aber auch streichen können. Denn Hertha spielte wie ein Zweitligist.
HSV strotzte vor Selbstbewusstsein
Der HSV dagegen dominierte vor allem in der zweiten Halbzeit die Partie. Die Mannschaft strotzt nach nun schon sechs Siegen in Folge vor Selbstvertrauen und versicherte glaubhaft, dass sie auch im Rückspiel nicht den Mut und die Nerven verlieren wird, sondern richtig Lust hat, etwas Großes zu erreichen. „Heute hat man wieder gesehen, dass wir jeden Gegner bespielen wollen, egal wie er heißt. Wir wollen unser Spiel durchziehen, und so wollen wir auch ins zweite Spiel gehen“, sagte Torhüter Daniel Heuer Fernandes, eine der prägenden Figuren dieser Saison und ein Sinnbild für die aktuelle Mannschaft. Unter Hecking und Thioune war der 29-Jährige zweimal abgeschrieben.
Genauso wie der HSV nach dem 29. Spieltag, als die Hamburger mit 0:1 bei Holstein Kiel verloren und den Eindruck erweckten, als würden sie selbst nicht mehr an sich und den Aufstieg glauben. „Ich war fast noch nie so deprimiert, weil es gefühlt die letzte Chance war. Und dann noch gegen meinen Ex-Verein“, sagte Jonas Meffert am Freitag. Der Mittelfeldspieler hatte vor einem Jahr mit Kiel gegen Köln wie schon 2015 mit Karlsruhe gegen den HSV die Relegation um den Aufstieg verloren.
HSV kam erst um 5 Uhr morgens in Hamburg an
Trainer Walter aber glaubte noch an seine Mannschaft. Und verlor, anders als die HSV-Trainer vor ihm, in der Endphase der Saison nicht den Rückhalt in der Kabine, sondern schuf eine Einheit, die sich auch von verschiedenen Rückschlägen nicht stoppen ließ. Die Fans sind so stolz wie lange nicht auf ihre Mannschaft. Das war schon vor dem Spiel rund um das Olympiastadion zu spüren. Und das spürte man auch während des Spiels im Stadion, in dem mehr als 20.000 HSV-Fans zu sehen und vor allem zu hören waren. „Es war überragend. Das ist eine Riesenunterstützung, die uns besser macht. Heute konnten wir die Fans ein Stück weit stolz machen mit unserer Leistung“, sagte Heuer Fernandes.
Auf der Autobahn 24 zwischen Berlin und Hamburg war in der Nacht zu Donnerstag noch so viel Rückreiseverkehr, dass auch der Mannschaftsbus des HSV bis 5 Uhr morgens brauchte, ehe er wieder am Volksparkstadion ankam. Daher trafen sich die Spieler am Freitag auch erst am Nachmittag zur Regeneration. Etwas länger wird diese bei Bakery Jatta dauern. Der Gambier wurde am Donnerstagabend mit muskulären Problemen ausgewechselt, soll aber bis Montagabend wieder fit sein.
„Kiel sollte Warnung genug sein“
Fit ist die Mannschaft des HSV in dieser Saison in jedem Fall. Vor allem ist sie mental so stark, dass das Team ein Schicksal wie vor einem Jahr Holstein Kiel nicht erleiden sollte. Die Schleswig-Holsteiner verloren 2021 nach einem 1:0-Sieg im Hinspiel beim 1. FC Köln im Rückspiel zu Hause mit 1:5. „Kiel sollte Warnung genug sein“, sagte HSV-Kapitän Sebastian Schonlau nach dem Spiel. Sein Kollege Meffert glaubt allerdings nicht an eine Wiederholung dieses Ereignisses. „Das kann man nicht vergleichen. Mit Kiel hatten wir zuvor zwei Matchbälle vergeben und waren enttäuscht. Jetzt sind wir einfach nur glücklich, dass wir es noch geschafft haben.“
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Schonlau und Meffert gehörten am Donnerstagabend wie auch Siegtorschütze Ludovit Reis zu den zweikampfstärksten Spielern auf dem Platz. Der HSV hatte 57 Prozent der direkten Duelle gewonnen und damit den Grundstein für den Sieg gelegt. Magath dagegen haderte: „Ich kann mir keine zweikampfstarken Spieler backen“, sagte der 68-Jährige, der am Montag auf die Rückkehr des im Hinspiel gesperrten Santiago Ascacibar setzt. Aber auch fußballerisch enttäuschten die Berliner. Magath sagte leicht sarkastisch: „Wir haben ja noch drei Tage Zeit, um zu üben, damit wir offensiv besser werden.“
Relegation: HSV ist bereit für die Bundesliga
Große Zuversicht strahlte Magath mit seinen Worten nicht mehr aus. Der HSV dagegen ist bereit für die Bundesliga und überzeugt, diese bemerkenswerte Saison zu krönen. „Bereits in den vergangenen Wochen hat man gesehen, dass sich da etwas zusammenbraut“, sagte Sportvorstand Jonas Boldt. „Es war ein Prozess, dem wir am Montag die Krone aufsetzen wollen.“