Hamburg. Den Derbysieg feierte der HSV ausgelassen, aber nur kurz. Was im Stadion nach dem Spiel passierte – und was das Ergebnis bedeutet.
Es war schon spät am Freitagabend, als sich Jan-Michel Deutsch und Tom Mickel noch ein paar Derby-Fachsimpeleien über WhatsApp hin und her schrieben. Der Sänger der Band Abschlach! und der Ersatztorhüter des HSV waren bereits zu Hause – mussten ihre Freude aber irgendwie rauslassen.
Mickel stieß noch auf dem Sofa mit Ehefrau Sabrina auf den 2:1-Sieg im Stadtderby gegen den FC St. Pauli an. Und auch Muchel, so der Rufname des Sängers und HSV-Fans, wusste angesichts der Sperrstunde ab 23 Uhr nicht so recht, wo er noch hätte feiern sollen. „Normalerweise hätten wir den Kiez schwarz-weiß-blau getrunken“, sagte Muchel zwei Tage danach. Doch was ist schon normal in diesen Zeiten?
HSV feiert Party im Volkspark
Alles andere als normal war das, was der HSV in der Woche zuvor erlebt hatte. Nur drei Tage nach dem überraschenden und dramatischen Sieg im DFB-Pokal-Achtelfinale beim Bundesligisten 1. FC Köln sicherte sich der HSV nach fünf vergeblichen Anläufen mit vier Niederlagen mal wieder die inoffizielle Hamburger Stadtmeisterschaft.
Welche Bedeutung dieser Sieg für den ganzen Club hatte, verdeutlichte der Jubel, der anschließend vom Erdgeschoss bis zur fünften Etage im HSV-Stadion zu vernehmen war. Trotz aller Corona-Einschränkungen herrschte zumindest für zwei Stunden ein bisschen Volksfest im Volkspark.
Bevor sich Mickel und Muchel ihre Nachrichten schickten, hatte Mickel Muchels Musik in der HSV-Kabine aufgedreht. „Mein Hamburg lieb ich sehr“ oder „Wir sind der HSV“ schallte es aus den Boxen. Alle Gassenhauer der Nordtribüne liefen in der Umkleide, in der sich nicht nur die Derbysieger vom Abend, sondern auch alle verletzten und noch nicht wieder fitten Spieler wie Tim Leibold, Stephan Ambrosius, Josha Vagnoman und Maximilian Rohr versammelten und zusammen feierten.
Walter gibt HSV-Profi Bier-Erlaubnis
Trainer Tim Walter hatte seinen Spielern und dem Staff schon im Kreis nach dem Sieg mit auf den Weg gegeben, dass man zwar nur ein Spiel gewonnen habe, sich an diesem Abend und nach dieser Woche aber alle mindestens ein Bier gönnen sollten. Und das taten sie auch.
Das beliebteste Fotomotiv in der Kabine war dabei die Anzeigetafel für die Auswechslungen, in der kurzerhand das Ergebnis des Derbys eingestellt wurde: 2:1. Torwarttrainer Sven Höh, der die Anzeige auch während der Spiele bedient, gewährte mit einem Instagram-Post einen Einblick in die Kabine, in der auch die Teambetreuer Lennart Coerdt und Mats Wesling mit der Mannschaft und dem Trainerteam feierten. Nur Moritz Heyer und Jan Gyamerah hatten Pech: Ausgerechnet an diesem denkwürdigen Abend mussten sie zur Dopingprobe.
HSV rückt etwas von Transfers ab
Und trotzdem: Die Stimmung stimmt in der Mannschaft. Das wurde am Freitag nicht nur in der Kabine, sondern zudem auf dem Platz deutlich. Und genau diesen Faktor bedenken die Kaderplaner um Sportvorstand Jonas Boldt und Sportdirektor Michael Mutzel bei der Frage, ob sie die Mannschaft bis zum Ende der Transferperiode am kommenden Montag noch verstärken. Der Plan, zeitnah einen flexiblen Offensivspieler zu verpflichten, ist nach den Erfolgen der vergangenen Woche gegen Köln und St. Pauli nicht mehr zementiert.
Boldt und Mutzel wissen aber auch, dass die Personallage gerade auf den Außenbahnen eng ist und Tempo fehlt, sollte Derbyheld Bakery Jatta mal ausfallen. Zudem ist nicht garantiert, dass die Mannschaft auch weiterhin so gut ohne Corona-Fälle durch die Saison kommt. Die Verantwortlichen fühlen sich grundsätzlich aber in ihrer Entscheidung bestätigt, den Kader kleinzuhalten und einzelne Spieler damit zu stärken.
HSV will keinen Konkurrenten für Kittel holen
Bestes Beispiel dafür ist Sonny Kittel. Der Spielmacher blüht in der Rolle als zentrale Figur im Mittelfeld auf. Mit vier Toren und nun schon 14 Vorlagen liegt Kittel, der nun im Topspiel gegen Darmstadt ausfällt, auf Platz drei der Zweitligascorer. Seine beiden Bilderbuch-Assists entschieden auch das Spiel gegen St. Pauli.
„Sonny hilft uns als Mensch und Anführer auch in der Kabine und gibt uns mit seiner Ausstrahlung extrem viel“, sagte Trainer Walter. Einen Spieler zu holen, der Kittel in seiner Chefrolle gefährden könnte, sieht der HSV als Gefahr. Die Maßgabe für die letzte Woche des Transferfensters ist also klar: Nur wenn der HSV das Gefühl hat, dass ein Spieler sportlich hilft, aber auch das Teamgefüge nicht durcheinanderbringt, schlägt der Club zu.
HSV mit neuer Willensstärke
Dass die Mannschaft des HSV in dieser Saison intakter wirkt, hat auch Moritz Fürste am Freitagabend beobachtet. Der Hockey-Olympiasieger und HSV-Fan schaute mit seinen Freunden das Derby wieder aus der „Looooge“ an. Durch das limitierte Kartenkontingent durften aber nur acht Gäste pro Loge dabei sein, Alkohol war nicht erlaubt. „Das hat an diesem Tag aber nichts ausgemacht. Die Stimmung war trotzdem unfassbar“, sagte Fürste, obwohl neben den 200 Gäste-Anhängern nur 1800 HSV-Fans im Stadion dabei waren.
Die Mannschaft schaffte es, mit ihrer Leistung und der neuen Willensstärke das kleine Publikum zur Partykulisse zu machen. „Der Wille ist der entscheidende Aspekt in der Entwicklung“, sagte Walter hinterher. Das hat auch Fürste erkannt. „Man hat gerade das Gefühl, dass nichts schiefgehen kann“, sagt der 37-Jährige, der mit seinen Logen-Kollegen nach dem Spiel den Nightcrawlers-Remix „Friday“ gleich dreimal aufdrehte, um 21.15 Uhr aber schon wieder zu Hause war. Sein Fazit: „Das war die beste HSV-Woche seit Ewigkeiten.“
HSV-Mitarbeiter sorgen sich um Finanzen
Und während sich die Logen im zweiten und dritten Stock des Stadions schnell leerten, trafen sich die Mitarbeiter der Geschäftsstelle in der fünften Etage. Sowohl in den Räumen der eSports-Abteilung als auch den Büros der Marketing-Mitarbeiter wurde auf die Stadtmeisterschaft angestoßen. Nach dem prestigeträchtigen Nordderbysieg in Bremen im September war es bereits der zweite Sieg für die Seele aller HSV-Beschäftigten, die es in den vergangenen Jahren nicht immer einfach hatten – und es nach wie vor nicht einfach haben.
Die angespannte Finanzlage des Clubs beschäftigt viele Mitarbeiter. Nachdem Aufsichtsratschef Marcell Jansen kürzlich im Abendblatt die Einnahme-Situation im Fußball mit den Worten „fünf nach zwölf“ beschrieb, ist die Unsicherheit nicht gerade kleiner geworden.
Umso passender kam in dieser Woche nicht nur der Derbysieg für die Seele, sondern auch der Einzug in das DFB-Pokal-Viertelfinale für das Bankkonto. Der HSV kann mit garantierten Einnahmen von rund einer Million Euro planen und mit etwas Glück bei der Pokalauslosung am kommenden Sonntag sogar von weiteren Erfolgen und Einnahmen träumen.
Derbysieg von 2019 als Lehre für den HSV
Tim Walter hält von solchen Träumereien aber nichts. Das machte er unmittelbar nach dem Derbysieg deutlich. „Wir freuen uns für unsere Fans. Wir freuen uns über drei Punkte. Aber es waren nur drei Punkte. Morgen geht’s weiter“, sagte Walter mit müder Stimme. Nach einer Einheit im Kraftraum am Sonnabend geht es an diesem Montag mit der nächsten Trainingseinheit weiter.
Dass eine zu rauschende Feier über einen Derbysieg die Sinne trüben kann, hatte der HSV vor drei Jahren erlebt. Nach dem 4:0-Sieg im Stadtderby am Millerntor und einer langen Partynacht gewannen die Hamburger in den acht folgenden Partien nicht mehr und verspielten noch vor dem letzten Spieltag den sicher geglaubten Aufstieg.
In diesem Jahr deutet sich ohnehin an, dass die ersten sieben Clubs sich bis zum Ende einen engen Kampf um die oberen drei Plätze liefern. Beim HSV und seinen Fans dürfte nach dieser Woche aber zumindest das sichere Gefühl gereift sein, dass beide Hamburger Mannschaften bis zum Ende in diesem Rennen dabei bleiben. Und ein bisschen träumen sollte auch beim HSV erlaubt sein.