Hamburg. Nicht nur der späte Ausgleich in Kiel offenbart Probleme, die der HSV aufarbeiten muss. Eine Analyse.
Michael Mutzel hatte noch immer an dem späten Ausgleich bei Holstein Kiel (1:1) zu knabbern, als er sich Dienstagvormittag den Fragen der zehn Medienvertreter im Volkspark stellte. „Der Ärger ist noch nicht verraucht, ein spätes Gegentor tut immer weh“, sprach der Sportdirektor des HSV in die drei aufgebauten Kameras. „Vor allem weil wir vorne richtig gute Chancen hatten, das Spiel zu entscheiden.“
Einen Tag nach dem verspielten Auswärtssieg gegen einen direkten Aufstiegskonkurrenten brachte Mutzel damit die Stimmungslage des HSV auf den Punkt. Am Abend zuvor hatten die Hamburger im Holstein-Stadion gleich mehrere Konterchancen trotz Überzahlsituationen schlampig zu Ende gespielt.
Dennoch ließ die Mannschaft bis zur Nachspielzeit in der Defensive nur wenig zu, hatte die viel gelobte Kieler Offensive um den umworbenen Jae-sung Lee weitgehend im Griff und sah bis zur Nachspielzeit nach dem sicheren Sieger aus. Doch eine Fehlerkette in der Abwehr führte doch noch zum Verlust von zwei Punkten. „Es kann immer mal passieren, dass am Ende eines Spiels noch ein langer Ball durchrutscht“, sagte Mutzel.
HSV-Gegentor in Nachspielzeit: Geht das wieder los?
Der durchgerutschte Ball zum 1:1 weckte Erinnerungen an die vergangene Saison, als der HSV im Saisonendspurt in Fürth (2:2), Stuttgart (2:3), gegen Kiel (3:3) und in Heidenheim (1:2) insgesamt sieben Punkte durch Gegentore in der Nachspielzeit verspielte. Eine Diskussion über das Déjà-vu will beim HSV aber keiner führen. „Wir sollten uns gar nicht erst einreden, dass späte Gegentore jetzt wieder zum Dauerthema werden“, sagte Mutzel, der sich lieber mit der im Großen und Ganzen funktionierenden Defensive beschäftigte. „Wir standen stabil, das war ein guter Entwicklungsschritt.“
Zur Entwicklung gehört jedoch auch, die Probleme zu erkennen und aufzuarbeiten, wie auch Mutzel weiß. Und so wäre es fahrlässig, das Remis in Kiel lediglich auf die Situation, die zum 1:1 führte, zurückzuführen. Schon in der ersten Halbzeit verpasste es der HSV, aus seiner Dominanz von phasenweise mehr als 70 Prozent Ballbesitz Kapital zu schlagen. Mit Ausnahme des Tores von Moritz Heyer tat sich die Elf von Trainer Daniel Thioune schwer, gegen einen für eine Heimmannschaft sehr tief stehenden Gegner zu Torchancen zu kommen.
„Wir haben nicht die Momente gefunden, Torgefahr auszustrahlen“, klagte Thioune, der im Vorfeld mehr Tempo gefordert und dafür Jeremy Dudziak und Sonny Kittel für Aaron Hunt und Manuel Wintzheimer neu ins Team gebracht hatte. Eine Umstellung, die nicht wie vom Trainer erhofft fruchtete. „Der Zug ging nicht auf“, räumte Thioune ein.
HSV: Warum plötzlich so passiv in Kiel?
Nach der Pause gab der HSV zur Überraschung vieler Beobachter seine Feldüberlegenheit aus der Hand und agierte erstaunlich passiv. Fühlten sich die Hamburger mit der Führung im Rücken und dem Wissen, einem spielstarken Rivalen 45 Minuten lang überlegen gewesen zu sein, möglicherweise zu sicher? „Es nimmt sich keiner vor nachzulassen, sondern es liegt auch immer am Gegner“, sagte Mutzel am Tag danach.
Gegen zunehmend mutig spielende Kieler beklagte der Sportdirektor die ungewohnt hohe Anzahl an Ballverlusten in den ersten 30 Minuten nach der Halbzeit. „Es ist uns in dieser Phase nicht gelungen, den Ball auch einmal in den eigenen Reihen zu halten.“ Diese Problematik erkannte auch Thioune an der Seitenlinie. Doch wie schon zuvor gegen St. Pauli (2:2) sorgten seine Wechsel nicht für neuen Schwung in der Mannschaft.
HSV zu schlampig bei Kontern in Kiel
Trotzdem hätte der HSV auch ohne zu glänzen erstmals drei Punkte an der Förde entführen müssen. Spielentscheidend war nicht nur das späte Gegentor, bei dem Youngster Josha Vagnoman keine gute Figur abgab. Sondern auch der Konter nur wenige Sekunden zuvor, als Flügelstürmer Khaled Narey beim Versuch auf den ungedeckten Torjäger Simon Terodde querzulegen, Kiels Torhüter Ioannis Gelios in die Arme spielte.
Zwei Schlüsselszenen, bei denen dem HSV vielleicht noch die Cleverness für den Aufstieg fehlt? „Es war die 90. Minute, Khaled war ein bisschen müde, dann war es auch noch sein (schwacher) linker Fuß. Dadurch verpasst er den Moment des Abspiels“, sagte Mutzel, der intern bereits die mangelhafte Ausbeute aus den Umschaltmomenten in Kiel monierte. Diese sollen in der Länderspielpause einer der Trainingsschwerpunkte werden. „Das müssen wir umstellen“, fordert Mutzel.
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Am Ende muss sich der HSV sogar noch bei Torhüter Sven Ulreich für den Punktgewinn bedanken. Mit einem starken Reflex verhinderte der Neuzugang ein weiteres Gegentor – zu einem Zeitpunkt, als der HSV längst hätte führen müssen. „Wenn wir aus einem der drei Konter das 2:0 machen, wäre der Sack zu gewesen. Und hinterher hätten alle gesagt, dass es ein toller Vortrag von uns war.“
Hat der HSV Luxusprobleme?
Doch von einem tollen Vortrag spricht nun keiner. Stattdessen wird analysiert, warum der HSV den Sieg am siebten Spieltag verschenkte.
Klar ist aber auch, dass der Saisonstart trotz des jüngsten Dämpfers mit 17 Punkten aus sieben Spielen gelungen ist. Die Probleme, die der HSV zweifellos noch hat und abstellen muss, würden vermutlich alle anderen 17 Zweitligisten gerne gegen die eigenen eintauschen. „Ich glaube, da haben Sie recht“, sagte Sportdirektor Mutzel mit einem Lächeln auf den Lippen auf eine entsprechende Frage eines Reporters.
Zumindest für diesen kurzen Moment war der Ärger über den späten Ausgleich in Kiel verflogen.