Kiel. Bis zur Nachspielzeit sieht der HSV wie der Sieger aus. Am Ende müssen die Hamburger sogar mit einem Punkt zufrieden sein.

Jonas Boldt ruderte immer wieder nervös mit den Armen. Dick eingepackt und mit Wollmütze verfolgte der Sportvorstand bei nur sechs Grad Außentemperatur auf der Tribüne das Spiel seines HSV bei Holstein Kiel. Und als die Hamburger kurz davor waren, den Derbysieg zu feiern, schlug Kiel doch noch zu.

Der eingewechselte Joshua Mees verdarb in der Nachspielzeit nicht nur Boldt die Laune, sondern dem gesamten HSV. Wie beim bislang letzten Spiel gegen Kiel im Juni (3:3) schockten die Störche den HSV mit dem Ausgleich zum 1:1 (0:1) in der Nachspielzeit. Auch im fünften Spiel der Zweitligageschichte blieb der HSV gegen die Schleswig-Holsteiner ohne Sieg.

HSV-Trainer Thioune: "Fleißiger verteidigen!"

„Wir hatten die klareren Chancen, haben es aber verpasst, vorne den Deckel draufzumachen“, klagte Innenverteidiger Toni Leistner. Ähnlich fiel auch die Analyse von HSV-Trainer Daniel Thioune aus. „Wir dürfen unsere Konter nicht so fahrlässig zu Ende spielen. Trotzdem darf man das Tor in der 90. Minute ein bisschen fleißiger verteidigen“, klagte der Coach, der aber auch etwas Positives aus der Hafenstadt mitnimmt. „Vielleicht wird der Punkt auf unserem Weg noch wertvoll.“

Es werde ihm schwerfallen, angesichts der luxuriösen Personallage einen Kader und eine Startelf zu nominieren, sagte Thioune vor dem Spiel. Dass er Xavier Amaechi, Jonas David und Bakery Jatta in Hamburg ließ, war zu erwarten. Dass er mit Leistner, Sonny Kittel und Jeremy Dudziak für Josha Vagnoman, Aaron Hunt und Manuel Wintzheimer seine Elf auf gleich drei Positionen veränderte, überraschte dann schon.

HSV beobachtet Kiels Lee ganz genau

Nach der Gegneranalyse entschied sich das Trainertrio des HSV für eine Viererkette mit dem bereits zweimal gesperrten Leistner als Abwehrchef. „Toni darf unsere junge Abwehr anleiten, genießt unser Vertrauen und ist als Typ stabil genug, auch wenn es in der Vergangenheit nicht immer optimal lief für ihn“, sagte Thioune.

Moritz Heyer bildete mit Amadou Onana eine Doppelsechs. Die Idee: Kiels Antreiber Jae-sung Lee im Zentrum aus dem Spiel zu nehmen. Der auch vom HSV umworbene Südkoreaner (Marcell Jansen bei Sky: „Ein sehr interessanter Spieler“) wurde nicht nur von Sportvorstand Jonas Boldt auf der Tribüne des Holstein-Stadions genau beobachtet, sondern auch von Onana und Heyer.

HSV findet gegen Kiel kaum eine Lücke

In den neuen grauen Ausweichtrikots waren die Hamburger zunächst bemüht, die Ordnung zu halten. Kiel war der Respekt vor dem Gegner anzumerken. Der HSV stellte sich auf das frühe Pressing schnell ein und konnte fortan in Ruhe den Ball zirkulieren lassen. Sobald es über die Mittellinie ging, lief aber wenig. Trotz 70 Prozent Ballbesitz bewegte sich der HSV kaum einmal in die gefährlichen Räume. Kiel positionierte sich zunehmend tiefer und wartete auf Fehler.

Der Plan des HSV, mit Kittel und Dudziak wieder mehr Tempo ins Spiel zu bekommen, ging zunächst nicht auf. Im Vergleich zum rasanten 2:2 gegen St. Pauli mangelte es dem Nordderby zunächst an Tempo. Und auch den Standards von Kittel fehlte es an Präzision. Nach 43 Minuten hatte sich der Techniker mit seinen Eckbällen dann aber warmgeschossen. Stephan Ambrosius köpfte die Hereingabe auf den langen Pfosten. Von dort lupfte Dudziak ihn elegant vors Tor, wo Heyer völlig unbedrängt einköpfen konnte. Der HSV bestrafte Kiels Passivität und ging aufgrund der Spielanteile verdient in Führung.

Die Statistik

Holstein Kiel

Gelios - Dehm, Wahl, Thesker (88. Mees), van den Bergh - Meffert (88. Hauptmann) - Mühling, Lee - Reese (72. Porath), Bartels (77. Girth) - Serra. - Trainer: Werner

HSV

Ulreich - Gyamerah (88. Wood), Leistner, Ambrosius, Leibold - Heyer, Onana (64. Kinsombi) - Narey, Dudziak (77. Wintzheimer), Kittel (78. Vagnoman) - Terodde (88. Hunt). - Trainer: Thioune

Schiedsrichter

Sören Storks (Velen)

Zuschauer

Tore

0:1 Heyer (43.), 1:1 Mees (90.+1)

Gelbe Karten

Bartels –

Torschüsse

8:8

Ecken

3:7

Ballbesitz

47:53 %

Zweikämpfe

91:83

1/10

Erwartungsgemäß musste Kiels Chefcoach Ole Werner seine Taktik in der zweiten Hälfte verändern und richtete seine Mannschaft offensiver aus. Der HSV aber verteidigte klug und kompromisslos. Bis zur Schlussviertelstunde blieb Kiel ohne jede Torchance. „Fünf Gründe, warum Kiel den HSV erneut schlägt“, hatten die „Kieler Nachrichten“ am Montag zusammengefasst. Auf dem Platz aber fanden sich keine Argumente, warum die Störche den HSV an diesem Abend erneut ärgern sollten.

Vagnoman patzt und erntet Kritik

Für den Ausgleich sollte es dann aber trotzdem noch reichen, weil der eingewechselte Josha Vagnoman kurz vor Schluss den ebenfalls eingewechselten Mees aus den Augen verlor (90.+1) und den Ball unterlief. Zuvor hatte es auch Abwehrchef Leistner verpasst, die hohe Flanke der Kieler zu klären. „Wir kriegen gar keinen Balldruck auf den Mann, der den Ball vorne reinschlägt. Ich verliere dann noch das Kopfballduell und schließlich kommt eins zum anderen“, sagte der Routinier.

Noch deutlicher wurde Sky-Experte Torsten Mattuschka, der sich über das Abwehrverhalten Vagnomans echauffierte. „Ich weiß nicht, was er da machen will“, sagte der Ex-Profi. „Er entschied sich für die schlechteste Option. Das ist für mich nicht zu erklären.“ Am Ende ist der späte Ausgleich bitter für den HSV, der den ersten Sieg gegen Kiel seit 2007 aus den Händen gab.