Hamburg. Der HSV-Trainer setzte auf erfahrene Spieler – doch die enttäuschten. Trotzdem könnte er sogar bei Nicht-Aufstieg bleiben.
Die Atmosphäre in den Katakomben des Volksparkstadions war am Montagmittag ein wenig gespenstisch. 15 Journalisten hatten sich die Hände desinfiziert und warteten mit Schutzmasken vor der Kabine des HSV auf Trainer Dieter Hecking, dessen Stehpult bereits mit entsprechendem Abstand aufgebaut war. Auch die vier Kameras waren mit jeweils 1,5 Metern Abstand voneinander platziert.
Doch statt des Coachs kamen am Tag nach dem bitteren 1:2 in Heidenheim zunächst nur der Reihe nach Bakery Jatta, Sonny Kittel und ein pfeifender Julian Pollersbeck, die von Weitem kurz grüßten und dann wie Geister nach wenigen Sekunden im Bauch der Arena verschwanden. Seit dem Neustart nach der Corona-Pause werden Interviewrunden von der Deutschen Fußball-Liga (DFL) ungern gesehen. Doch ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Und ungewöhnliche Zeiten gehören beim HSV ohnehin zum festen Programm.
„Ich bin nun mal nicht in Heidenheim, ich bin in Hamburg“, sagte wenig später Dieter Hecking, als der Trainer um Punkt 12.30 Uhr in kurzen Hosen und mit hochgezogenen weißen Strümpfen zur Lage der HSV-Nation sprach. Knapp 25 Minuten lang machte der 55-Jährige das Rede-und-Antwort-Spielchen mit, gab Auskunft über Befindlichkeiten und versuchte, den Blick wieder nach vorne zu richten.
HSV bestreitet Trainerderbatte
Dabei ist Hecking sicherlich auch zu lange im Geschäft, um mediale Kritik und Spekulationen persönlich zu nehmen. „Die Vertragssituation gibt es ja her, dass spekuliert wird“, sagte Hecking, der am Tag nach dem traumatischen 1:2 in Heidenheim in verschiedenen Zeitungen von verschiedenen Nachfolgekandidaten lesen musste.
„Trainer-Gerüchte um Breitenreiter und Walter“ hatte die „Bild“-Zeitung getitelt, „Jetzt wird’s auch für Hecking eng“ stand in großen Buchstaben in der „Mopo“, die den Namen von Darmstadt-Trainer Dimitrios Grammozis ins Spiel brachte. Und Hecking? Zuckte mit den Schultern, vergrub die Hände in den Hosentaschen und sagte: „Natürlich kann der HSV sagen, dass es das für mich gewesen ist.“ Eine kurze Pause, dann: „Die Signale waren aber bislang andere. Und ich sehe auch nicht, warum die Signale nach diesem Spiel andere sein sollten.“
Willkommen in Hamburg!
Lesen Sie auch:
Doch während es beim Lokalrivalen FC St. Pauli eine tatsächliche Trainerdiskussion gibt, versicherten sämtliche HSV-Protagonisten, dass es im Volkspark bislang lediglich eine mediale Diskussion gebe. „Wir werden am Ende der Saison ergebnisoffen sprechen“, betonte am Montag auch Hecking, der sogar ein überraschendes Angebot hinterlegte: „Von meiner Seite spricht weiterhin nichts dagegen, hier auch in der Zweiten Liga weiterzumachen. Aber natürlich müssen auch gewisse Voraussetzungen erfüllt werden.“
Voraussetzung Nummer eins dürfte sein, dass Hecking trotz des Abrutschens auf den vierten Platz auch weiterhin das Vertrauen der Verantwortlichen spürt. Sein Vertrag würde sich lediglich im Fall des Aufstiegs um ein Jahr verlängern, im Fall des Bundesliga-Klassenerhalts dann sogar noch einmal um ein weiteres Jahr.
Doch anders als von Sky-Moderator Yannick Erkenbrecher behauptet, hat es nach Abendblatt-Informationen bislang auch tatsächlich noch kein Treffen mit einem anderen Trainerkandidaten gegeben. „Ich habe immer gesagt: Dieter bleibt mein erster Ansprechpartner für die neue Saison“, betonte am Montag erneut auch Sportvorstand Jonas Boldt.
Die Bilder der HSV-Niederlage in Heidenheim:
HSV verliert das Schicksalsspiel in Heidenheim
Alles also nur halb so schlimm? Natürlich nicht! Die Enttäuschung über das drohende Aus im Aufstiegskampf war am Montag allen Beteiligten deutlich anzumerken. „Nach der Saison müssen wir sehr kritisch besprechen, was alles falsch gelaufen ist“, sagte Hecking, aber: „Für diese Analyse sind wir am falschen Zeitpunkt der Saison.“ Noch habe seine Mannschaft die Möglichkeit, die Relegation durch einen Sieg gegen Sandhausen und einen gleichzeitigen Punktverlust Heidenheims in Bielefeld zu erreichen.
Um genau das auf der Zielgeraden der Saison zu schaffen, müssten aber die zahlreichen Fehler auf der Zielgeraden der jeweiligen Spiele abgestellt werden. In Heidenheim führte in der 95. Minute eine Fehlerkette wie kürzlich beim 2:3-Gegentor in Stuttgart diesmal zum 1:2-Tiefschlag. Talent Josha Vagnoman (rechts) und der erfahrene Tim Leibold (links) waren zu weit vorgerückt, Gladbach-Leihgabe Jordan Beyer verlor ein Kopfballduell im Mittelfeld, und auch „die fliegenden Holländer“ Rick van Drongelen sowie Timo Letschert konnten nicht mehr retten, was nicht mehr zu retten war. „Wenn wir solche Fehler nicht abstellen“, sagte Hecking, „werden wir unsere Ziele nicht erreichen.“
Bleibt nur die Frage, was passieren würde, wenn der HSV das Minimalziel tatsächlich verfehlt. Ob er dann nicht auch gescheitert sei, wollte am Montagmittag ein Journalist von Hecking wissen. „Ich bin nicht gescheitert. Dafür ist der Verein zu komplex“, antwortete der Trainer, der sich nach der Saison auch intern kritische Fragen gefallen lassen muss.
Hecking änderte die HSV-Personalpolitik
So war Hecking vor Saisonbeginn von der angedachten Linie abgerückt, vor allem auf Talente zu setzen. Der Trainer hatte sich für die Transfers der erfahrenen Ewerton (31) für hinten und Martin Harnik (33) für vorne ausgesprochen. Und beide Neuzugänge enttäuschten. Im Aufstiegspoker waren es vor allem der Trainer und der schon lange entlassene Ex-Chef Bernd Hoffmann, die mit teurem Personal „all in“ gehen wollten – und nun eventuell alles verlieren.
„Wir haben sehr viel umgesetzt, haben an die 35 Transfers getätigt“, entgegnete Hecking, der erst nach dem letzten Spiel in die Tiefe gehen will. „Ich werde die Saison komplett analysieren. Doch jetzt liegt der Fokus auf Sandhausen.“
Eine Trainingswoche hätte er Zeit, einerseits die Köpfe freizubekommen und andererseits die Beine locker zu machen. „Für uns heißt es jetzt nur noch hopp oder top. Wir müssen gar nicht groß nach Bielefeld schauen und hoffen, dass die Arminia gewinnt. Wir müssen erst einmal unser Spiel gewinnen“, sagte Hecking, dessen Hauptaufgabe bis zum kommenden Sonntag das Wiederaufrichten seiner am Boden liegenden Mannschaft sei: „Wir müssen versuchen, die Spieler wieder aufzubauen.“
An diesem Dienstag ist vorerst trainingsfrei, am Mittwoch geht’s weiter. Gespenstisch wird es im Volkspark erst wieder am Sonntag beim Geisterspiel. Anpfiff ist um 15.30 Uhr – und gegen 17.20 Uhr ist der ganze Spuk endgültig vorbei. Oder eben auch nicht …
Hören Sie zu dem Thema auch unseren Podcast "HSV – wir müssen reden" mit Dennis Diekmeier, oder sehen Sie die Aussagen des früheren HSV-Publikumslieblings im Video: