Hamburg. Er hätte in die Premier League wechseln können, ging aber zum HSV. Aus dem Leben eines Typen, der es nicht immer einfach hatte.
Dieter Hecking hatte ein sehr gutes Gefühl, als Sonny Kittel sein Haus in Hohnhorst bei Hannover verließ. Er könne ihn überzeugt haben von einem Wechsel zum HSV, dachte sich der neue Cheftrainer, als er den Mittelfeldspieler vom FC Ingolstadt während seines Urlaubs zu sich einlud. Doch am Ende sagte Kittel noch einen Satz, der Hecking etwas verunsicherte. Er wolle ehrlich sein, so Kittel. Er werde am nächsten Tag noch nach England fliegen, um mit Norwich City zu verhandeln. Der Club des deutschen Trainers Daniel Farke ist gerade in die Premier League aufgestiegen, spielt am 9. August zum Auftakt der Saison beim FC Liverpool.
Am Abend schickte Hecking eine SMS an Kittel. Fliegst du wirklich? Ja, er fliege wirklich, antwortete Kittel. Hecking wurde unruhig. Das Gespräch sei doch so gut gelaufen. Doch nun locke das große Geld und der Reiz der Premier League. Da könne der HSV wohl nicht mithalten. 24 Stunden später klingelte bei Hecking das Handy, Kittel meldete sich. Er klang nicht gut. Er habe gerade seinen Flug verpasst. Eine gute Nachricht hätte er aber noch. Er habe sich für Hecking entschieden. Gegen die Premier League. Und für den HSV.
Kittel: Hecking hat mich gepackt
Die Geschichte ist erst ein paar Tage her, als Kittel am Dienstagmittag im überhitzten Medienraum steht und über die Gründe seines Wechsels zum HSV spricht. Und der Grund hatte vor allem eine Namen: Hecking. „Ich hatte sehr viele Optionen und sehr viele Gespräche“, sagte Kittel, der vor drei Wochen mit dem FC Ingolstadt nach der verlorenen Relegation gegen Wehen-Wiesbaden in die Dritte Liga abgestiegen und dadurch plötzlich ablösefrei zu haben war. „Nach dem Gespräch mit Dieter Hecking bin ich nach Hause gefahren und hatte direkt das Gefühl, dass es mich gepackt hat. Er hat viele Dinge angesprochen, die mir wichtig sind.“
Sonny Kittel menschlich gesehen
Und dabei ging es vor allem um die Vertrauensfrage. Wer die noch junge, aber schon ereignisreiche Karriere von Sonny Kittel zurückverfolgt, der stößt immer wieder auf dieses eine Wort. Vertrauen. „Vertrauen ist für jeden Spieler das Wichtigste“, sagt der 26-Jährige, als er darüber spricht, warum er nach einer sehr langen Leidenszeit bei Eintracht Frankfurt in Ingolstadt zu einem der besten und stabilsten Spieler der Zweiten Liga wurde. „Ingolstadt war eine schöne Zeit, ich habe dort volles Vertrauen gespürt. In Frankfurt hatte ich auch schöne, aber wegen der Verletzungen viele negative Momente erlebt.“
Kittel & Co.: Die HSV-Transfers 2019/20:
Kittel & Co.: Die HSV-Transfers 2019/20
Bruchhagen störte affektiertes Verhalten
Rückblick: Im Juni 2010 sitzt Heribert Bruchhagen auf der Tribüne des Frankfurter Volksbank Stadions, als Sonny Kittel im Halbfinale der deutschen B-Jugendmeisterschaft gegen Hertha BSC zwei Tore vorbereitet und Frankfurt 2:1 siegt. Im Rückspiel trifft Kittel doppelt, das Finale gegen Leverkusen gewinnt Frankfurt 1:0. Das Mittelfeldtalent ist der Unterschiedsspieler. Bruchhagen, damals Vorstandschef der Eintracht, stört sich zwar ein wenig am affektierten Verhalten des 17-Jährigen. Wenige Tage danach aber sitzt Kittel bei Bruchhagen im Büro und unterschreibt seinen ersten Profivertrag. Sieben weitere Wochen später gibt Kittel im Spiel gegen den HSV (1:3) sein Bundesligadebüt.
„Sonny ist ein ganz lieber Junge, ein großes Talent, der leider sehr früh sehr großes Verletzungspech hatte“, sagt Bruchhagen heute. Zwei Kreuzbandrisse und zwei Knorpelschäden in vier Jahren verhinderten, dass Kittel in Frankfurt den Durchbruch schaffte. 2016 ging der gebürtige Gießener, der mit sechs Jahren in den Nachwuchs von Eintracht Frankfurt wechselte, nach Ingolstadt.
Kittel wuchs in schwierigen Verhältnissen auf
Heute, nach zwei Jahren Zweite Liga, ist Kittel wieder stabil. Aus einem der größten deutschen Talente ist ein gereifter junger Mann geworden, der eigentlich nicht mehr zurückblicken will. „Ich weiß, dass die Verletzungen zu meiner Geschichte dazugehören, aber mich und meine Familie nervt das mittlerweile schon, wenn man das in jedem zweiten Satz lesen muss.“ Kittel spricht fast immer in Wir-Form, wenn er von sich erzählt. Gemeint sind sein kleiner Bruder Sammy (19) und seine Mutter, die er sich beide auf den rechten Arm tätowieren ließ. „Wir haben eine sehr enge Verbindung“, sagt der große Bruder.
Die beiden Jungs wuchsen in sozial schwierigen Verhältnissen ohne Vater auf. Die Mutter fuhr Sonny jeden Tag von Gießen nach Frankfurt. Früh kümmerte sich dieser um seinen kleinen Bruder, der heute bei 1860 München II spielt. Seine Familiengeschichte ließ Kittel reifen. Privat beschreibt er sich als ruhigen Typen, der seine Emotionen auf dem Platz auslebt. Im Dezember legte er sich nach dem Spiel gegen den HSV mit Fiete Arp an. Die beiden eint ihre Geschichte. Zwei mit der Fritz-Walter-Medaille ausgezeichnete Youngster, die mit dem frühen Hype Probleme bekamen.
Kittel erklärt sein Löwen-Tattoo
Über den Fußballer Sonny Kittel besteht aber eine einhellige Meinung: Der ehemalige Jugendnationalspieler sei auch heute noch ein Unterschiedsspieler. Das sagen vor allem seine Wegbegleiter aus Ingolstadt. Wichtig sei eben nur eines: Man müsse Kittel Vertrauen geben. Und genau das hat Dieter Hecking offensichtlich geschafft, als er ihn von einem Wechsel zum HSV überzeugte.
An diesem Mittwoch um 10 Uhr wird Kittel erstmals mit seiner neuen Mannschaft trainieren. Hecking erhofft sich vom Neuzugang aus Ingolstadt vor allem, dass die Mannschaft sich fußballerisch verbessert. Und natürlich war es nicht nur Hecking, sondern auch der Name HSV, der Kittel überzeugte. „Für mich ist der HSV ein riesen Club, der zu den fünf größten Vereinen Deutschlands zählt, das ist Fakt. Hier steckt unglaublich viel Potenzial“, sagte Kittel. Sätze, wie sie schon viele vor ihm gesagt haben.
Aber Kittel ist auch ein Typ, der eben keine ganz gewöhnliche Fußballer-Geschichte zu erzählen hat. Dazu passt das Tattoo eines Löwen, das auf seinem Arm neben seiner Mutter prangt. „Der Löwe steht für Stärke“, sagt Kittel. Und davon wird er – neben Heckings Vertrauen – eine Menge brauchen beim HSV.