Hamburg. Der Trainer hat Erfahrung mit Relegationsspielen. Damit ist er beim abstiegsbedrohten HSV nicht alleine. Ein Gedankenspiel zum Finale.

Relegation, die. Substantiv, feminin. Zehn Buchstaben, fünf Silben, ein Wort. Um die Bedeutung zu verstehen, muss man entweder Latein beherrschen (relegatio: Fortschickung‚ Verbannung‚ Verweisung) oder Dennis Diekmeier fragen. „Das ist eine Extremsituation. Diesen Druck wünscht man niemandem“, sagt der Relegator, der nach dem 0:0 gegen Mainz mit dem HSV bereits auf seine fünfte „Saisonverlängerung“ (zwei mit Nürnberg) zusteuert. Zwei Spiele hat der HSV noch Zeit, im Optimalfall die Existenzspiele zu verhindern – oder im schlimmsten Fall direkt abzusteigen. Ein Überblick:

Relegationsrechnung

Fußball ist keine Mathematik. Sagt man immer, bevor am Ende dann doch das große Rechnen, alternativ auch das Was-wäre-wenn-Spielchen genannt, beginnt. Die Ausgangslage: Außenseiter Ingolstadt hat 30 Punkte, Platzhirsch Hamburg und Konkurrent Mainz haben 34 Zähler, die Bewerber Wolfsburg und Augsburg 36 Punkte, sowie Leverkusen 37 Punkte. Zu den Spielregeln gehört, das Restprogramm je nach Gemütslage als „machbar“, „egal“ oder auch „extrem schwierig“ zu beschreiben. „Wir gucken nur auf uns“, sagte Trainer Markus Gisdol, ehe er am Abend ganz genau auf die anderen, in diesem Fall die möglichen Relegationsgegner, schaute: Eintracht Braunschweig und Union Berlin.

Bevor es aber um potenzielle Gegner aus Liga zwei geht, sind zunächst die ganz konkreten Gegner aus Liga eins auch Thema Nummer eins: „Fakt ist, dass es am letzten Spieltag ein echtes Finale gibt“, sagt Christian Mathenia, der ein deutlich besserer Torhüter als Mathematiker ist. Denn: Wenn der HSV auf Schalke verliert, Ingolstadt gleichzeitig nicht punktet, Mainz gewinnt und Wolfsburg sowie Augsburg zumindest unentschieden spielen, dann will es die Fußball-Mathematik so, dass es Mathenias Fakt-Finale nie geben wird. Wenn-dann-Theorie für Fortgeschrittene. „Wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen“, sagt Praktiker Aaron Hunt.

Das Restprogramm der Abstiegskandidaten

1. FSV Mainz (13./44:53/37)

Köln (A)

FC Augsburg (14./35:51/37)

Hoffenheim (A)

VfL Wolfsburg (15./33:50/37)

HSV (A)

HSV (16./31:60/35)

Wolfsburg (H)

1/4

Relegationspsychologie

Der frühere Bremer hat natürlich gut reden. Während 2014 und 2015 die Relegation (ohne Hunt) im Saisonendspurt als einziger Ausweg und somit als Erfolgsfall gewertet wurde, ist die Ausgangslage diesmal eine andere: Der HSV kann sich noch aus eigener Kraft retten, müsste im Fall des Scheiterns aber mit extrem gedämpfter Stimmung in die Entscheidungsspiele gehen. Gerade deswegen mahnt Gisdol: „Es wäre fatal, wenn wir uns nicht schon jetzt mit der Situation auseinandersetzen würden.“

Der Schwabe ist bemüht, in der prekären Situation das halb volle statt des halb leeren Glases zu beschreiben. „Der Punkt gegen Mainz hat uns in eine gute Ausgangssituation gebracht. Hätten wir das Spiel verloren, dann wären wir weg vom Fenster gewesen“, sagt Gisdol, der in diesen Tagen mehr denn je als Psychologe gefragt ist. „Es ist eine brutal schwere Situation“, sagt er. „Der Druck ist deutlich zu spüren.“

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Gisdol bewertet die Nullnummer gegen Mainz positiv

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    Relegationserfahrung

    Am Montag wirkt Gisdol allerdings erstaunlich gelassen, als es um das R-Wort geht. „Wir wären vorbereitet“, sagt der Chefrelegator – und erinnert an seinen größten Erfolg als Trainer: die gewonnene Relegation mit 1899 Hoffenheim. 2013 gegen Kaiserslautern. „Wir hatten den Gegner schon sauber filettiert, als niemand glaubte, dass wir es überhaupt noch in die Relegation schaffen“, sagt Gisdol. Hoffenheim gewann am letzten Spieltag sensationell 2:1 in Dortmund und ging mit einem Erfolgserlebnis im Rücken in die Relegation. 3:1 und 2:1 siegte Gisdols Elf gegen den FCK.

    „Die Erfahrung ist im Nachhinein sehr viel wert“, sagt der Trainer relegationsrückblickend. „Beim HSV ist der Weg länger, aber es gibt viele Parallelen. Ich kann meine Erfahrungen an meine Spieler weitergeben.“ Und diese Erfahrungen sind für Gisdols Spieler wichtiger, als man meinen könnte. Trotz des möglichen Relegationstriples in nur vier Jahren müssen sich die meisten HSV-Profis ihren Ruf als Relegator erst noch verdienen. Aus der Startelf vom Sonntag verfügen lediglich Dennis Diekmeier (2009, 2010, 2014, 2015) und Lewis Holtby (2015) über relegationistische Lebenserfahrung. Auf der Bank saßen zudem Matthias Ostrzolek (2015) und Pierre-Michel Lasogga (2014, 2015).

    Für Innenverteidiger Johan Djourou (2014, 2015) wird es in jedem Fall keine erneute Relegation geben. Trotz der Gelbsperre von Mergim Mavraj behält der Kapitän a. D. den Stempel „suspendiert“. Gisdol schloss am Montag eine Rauswurf-Rücknahme kategorisch aus. „Die Entscheidung ist getroffen“, sagte der Trainer, der am Sonnabend auf Schalke mit Kyriakos Papadopoulos und Gideon Jung nur noch zwei Innenverteidiger zur Verfügung hat.

    Was passieren würde, wenn sich einer von ihnen noch verletzt? „Dann lösen wir es mit unseren Sechsern“, sagt Gisdol. Der Brasilianer Walace wäre der erste Kandidat. Ziemlich sicher wieder spielen wird auf der Sechs Vasilije Janjicic. Der 18 Jahre junge Schweizer, der gegen Mainz überraschend in der Startelf stand und ein ebenso überraschend gutes Spiel machte, könnte im Saisonfinale zur Überraschung der Saison werden. „Oftmals bringen so junge Spieler eine Unbeschwertheit rein“, sagt Gisdol über den Nachwuchsrelegator.

    Relegationshoffnung

    Wer nach möglichen Hoffnungsträgern für eine Relegation sucht, der hätte am Montag in der Eppendorfer Hegestraße zwei mögliche Kandidaten finden können. Im Bio-Café „Was wir wirklich lieben“ trafen sich zum Frühstück zwei relegationserprobte HSV-Profis, mit denen in dieser Saison eigentlich keiner mehr gerechnet hatte: Nicolai Müller und René Adler, die Relegationshelden von Karlsruhe 2015. Torhüter Adler wird fünf Wochen nach seinem Rippenbruch heute noch einmal untersucht. Geben die Ärzte ihr „Go“, wäre Adler in der Relegation möglicherweise wieder einsatzfähig.

    Gleiches gilt für den relegationsunbefleckten Schweden Albin Ekdal, der sich am gleichen Tag wie Adler verletzt hatte und nach seinem Muskelbündelriss am gleichen Tag wieder ins Training einsteigen könnte wie Müller nach seinem Innenbandriss. Gisdol hofft, dass beide in der kommenden Woche wieder mit der Mannschaft trainieren – und im besten Fall gar nicht mehr als Relegatoren benötigt werden.