Fassungslosigkeit unter den Fans über Gregoritschs Souvenirjagd. Gisdol redet Klartext. Wird Hochstätter neuer Sportchef?
Hamburg. Während die meisten HSV-Spieler nach einer weiteren Blamage mit gesenktem Haupt über den Platz schlichen, hatte es Michael Gregoritsch eilig. Der Österreicher lief bis in die Katakomben dem nicht zum Einsatz gekommenen BVB-Star Mario Götze nach, um sich dessen Trikot zu sichern. Mit dieser fragwürdigen Aktion löste Gregoritsch bei den Zuschauern, die das Volksparkstadion nicht ohnehin schon vorzeitig verlassen hatten, Stirnrunzeln aus. Auch im Netz erntete er viel Kritik und vor allem Fassungslosigkeit von den Anhängern des (Noch)-Dinos.
Inzwischen heißt es aber, Gregoritsch habe sich das Trikot von Götze nicht für sich geholt, sondern für die Tochter eines ehemaligen HSV-Spielers.
In den 90 Minuten zuvor war derartiger Einsatz bei den Hamburgern nur selten zu sehen. Der trostlose Auftritt beim 2:5 gegen Borussia Dortmund war ein weiterer Offenbarungseid. Unter Markus Gisdol verliert der HSV zum dritten Mal in Folge mit drei Toren Unterschied. 23 Gegentore haben die Hanseaten bereits kassiert. Nach acht Niederlagen in zehn Spielen stehen mickrige zwei Pünktchen auf der Habenseite – es sind die Zahlen eines Absteigers.
Club-Chef Dietmar Beiersdorfer suchte am Sonntag nach Erklärungen. "Grundsätzlich haben wir gute Spieler. Wir führen sie nur aktuell nicht zum Erfolg." Der Vorstandsvorsitzende stärkte Trainer Gisdol, der statistisch der schlechteste HSV-Trainer aller Zeiten ist, demonstrativ den Rücken. "Seine Bilanz ist schlecht, aber wir sind von ihm überzeugt." Einen Rücktritt schließt der in die Kritik geratene Vereinsboss aus.
Wird Hochstätter neuer Sportchef?
In den kommenden Tagen wollen die Club-Bosse einen neuen Sportchef präsentieren. Nach der Absage von Nico-Jan Hoogma soll neben Karlsruhes Jens Todt laut NDR 90,3 nun auch Bochums Sportvorstand Christian Hochstätter zu den Favoriten gehören. Zuletzt zählte auch der ehemalige Schalke-Manager und momentan vereinslose Horst Heldt zum Kandidatenkreis. Doch auch Heldt sagte Beiersdorfer ab, wie am Sonntagabend bekannt wurde.
"Wir sind in Gesprächen", bestätigte Beiersdorfer, der zuletzt Hoogmas Version der Absage umdrehte. "Ich habe ihm mitgeteilt,dass wir uns anders orientieren. Er hat den Ablauf anders ausgelegt."
Aubameyang torgefährlicher als der HSV
Dortmunds Top-Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang, der nach seiner Suspendierung zurück in die Startelf kehrte, schoss den HSV mit einem Viererpack nahezu im Alleingang ab. Nach seinem dritten Streich skandierten die HSV-Fans: „Außer Uwe könnt ihr alle gehen!“ Zu diesem Zeitpunkt hatte der Gabuner in 27 Minuten mehr Tore geschossen als der HSV die gesamte Saison (2). Alle drei Hattricks der laufenden Saison wurden gegen die Hamburger erzielt. Leverkusens Joel Pohjanpalo und Kölns Anthony Modeste durften schon, nun zog Aubameyang nach.
Club-Ikone Uwe Seeler verfolgte das Debakel von der Loge aus und musste mit ansehen, dass sein HSV sich aktuell nicht bundesligatauglich präsentiert. Für einige Fans stand diese Tatsache schon vor dem Anpfiff fest. „Erste Liga, keiner weiß, warum!“, stand in Großbuchstaben auf einem Banner in der Fankurve. Auf einem anderen Schriftzug war dick und fett zu lesen „Who the fuck is Tasmania 1900?“ – der legendäre Verein, der seit der Saison 1965/66 als Synonym für abgeschlagene Tabellenschlusslichter herhalten muss und aktuell sogar noch vom HSV übertroffen wird.
Aubameyangs Treffer zum 0:4 feierten die Zuschauer hämisch mit einer La Ola. Kurz darauf setzte sich dann aber doch der Unmut des Publikums durch und die Mannschaft wurde wieder ausgepfiffen.
Müller der „Pianospieler auf der Titanic“
„Ich habe Verständnis für die Pfiffe und Buh-Rufe, aber diese Sachen helfen uns überhaupt nicht weiter“, klagte Gisdol nach dem Spiel. „Wir müssen jetzt alle zusammen im Verein diese Situation so akzeptieren, wie sie ist. Uns muss bewusst werden, dass wir es nur schaffen, wenn wir diese Gegebenheiten zu 100 Prozent annehmen."
Einzelkritik: Grauen in der Dreierkette
Diese Ansicht teilen offenbar auch die Spieler. Nach seinem Anschlusstreffer zum 1:4 ging Nicolai Müller exemplarisch auf die Fans zu und forderte sie mit wütendem Gesichtsausdruck auf, die Mannschaft zu unterstützen und sich nicht von ihr abzuwenden. Sky-Kommentator Wolff Fuss verglich den Mittelfeldspieler wegen seiner zwei Tore mit dem „Pianospieler auf der Titanic“. Auf die Frage, was er beim Fangesang „außer Uwe könnt ihr alle gehen“ gedacht habe, behauptete Müller, er hätte es nicht gehört und flüchtete aus der Mixed Zone. Andere Spieler gaben ähnlich kurz gebundene und patzige Antworten. Die permanenten Misserfolge schlagen sich auch auf die Stimmung nieder.
Gisdol und Jansen reden Klartext
Gisdol hat als Hauptgrund für die sportliche Krise die überzogene Erwartungshaltung im Verein und im Umfeld ausgemacht. „Die Situation ist besonders schwer, weil die Erwartungshaltung in einem nicht angemessenen Maß aufgestellt wurde. Das ist das größte Problem unseres Teams. Denn die Realität heißt nichts anderes als reiner Existenzkampf. Dessen muss sich jeder spätestens heute klar geworden sein. Die Träumereien müssen aufhören“, stellte der Coach klar.
Auch Beiersdorfer appellierte an die Fans: "Wir brauchen euren Rückhalt! Diesmal brauchen wir die Unterstützung früher als das in den letzten Jahren der Fall war." Dafür wolle man auch alles "reinhauen". Der Club-Boss glaube nicht, dass die Fans sich dauerhaft vom Verein abwenden werden. "Unsere Fans sind HSVer durch und durch und werden weiterhin zu uns halten."
Jansen moniert fehlendes Konzept
Gisdol hat inzwischen den Existenzkampf ausgerufen. "Nach dem Hoffenheim-Spiel kommen Gegner auf Augenhöhe, da müssen wir zuschlagen", gibt er Marschroute vor. Der Schwabe behauptet, gegenüber den Abstiegskonkurrenten einen Nachteil zu haben, da Vereine wie Darmstadt und Ingolstadt von vornherein ausschließlich das Ziel Klassenerhalt ausgerufen hätten.
Zu dieser Erkenntnis kommt auch der frühere HSV-Profi Marcell Jansen: „Man muss schon ehrlicherweise sagen: Was die anderen machen, das hat mehr Konzept, das lebt mehr, das hat mehr Körpersprache und auch mehr Philosophie“, sagte der 31-jährige Ex-Nationalspieler bei Sky. „Im Moment gibt es wenig Argumente, warum der HSV vor anderen Vereinen stehen sollte.“
Djourou vs. Gisdol
Vor allem die vermeintlichen Leistungsträger, die Woche für Woche patzen, machen derzeit wenig Hoffnung. Gegen Dortmund waren es die erfahrenen Innenverteidiger Emir Spahic und Johan Djourou, die gleich zwei Treffer von Aubameyang unfreiwillig vorbereiteten. Dazu erwischte der sonst so sichere René Adler keinen guten Tag. Möglicherweise war der Torwart, der erst am Freitag nach muskulären Problemen wieder ins Training eingestiegen war, nicht richtig fit. Nach dem vierten Gegentor griff er sich an den lädierten Rücken.
HSV kassiert Debakel gegen Dortmund an Seelers 80.
Kapitän Djourou machte für die desolate Leistung der Defensive die Systemumstellung mit drei Innenverteidigern im Zentrum verantwortlich. „Der Trainer hat entschieden, für viele war es neu. Es fehlen die Automatismen, was leider zu sehen war“, so seine Kritik, die Gisdol nicht unkommentiert auf sich sitzen ließ. „Wir haben unglaubliche individuelle Fehler gemacht, mit denen wir auch bei einer Viererkette Probleme bekommen hätten.“