Hamburg. Ex-Aufsichtsratschef hat ein Buch über Aufkommen und Erlöschen seiner HSV-Leidenschaft geschrieben. Auch Kühne wird nicht verschont.
Hätte Manfred Ertel auf seinen Vater gehört, wäre dem früheren Aufsichtsratschef des HSV wohl einiges erspart geblieben. Ertel Senior, so schreibt es Ertel Junior zu Beginn in seinem neuen Buch „Hört die Kurve!“, mochte Fußball, aber nicht den HSV. Er untersagte seinem Sohn sogar, zur Meisterschaftsfeier 1960 zur Rothenbaumchaussee zu fahren. „Ich durfte nicht dabei sein, mein Vater hatte es verboten“, schreibt Ertel. „Aber der Virus, der Virus hatte mich angesteckt.“
Es ist der Virus HSV, über den Ertel ein ganzes Buch geschrieben – und der ihm am Ende so sehr zugesetzt hat. Das Werk aus dem Verlag „Die Werkstatt“, vom 19. September an im Handel, wurde dem Abendblatt exklusiv vorab zur Verfügung gestellt. Und schon in den ersten Kapiteln wird deutlich, dass das „persönliche HSV-Lesebuch“, wie Ertel es selbst nennt, ausführlich den Beginn, aber vor allem das jähe Ende seiner wahrscheinlich größten Leidenschaft beschreibt. Ertels ganz persönliche Geschichte ist auch eine Blaupause für die Geschichte vieler Traditionalisten, die sich mit der Wirklichkeit im Geschäft Profifußball nicht mehr identifizieren können. Es ist die Geschichte der Fans, die sich immer mehr vom einst geliebten Milliardenbetrieb Bundesliga entfremdet haben. Besonders deutlich wird das, wenn der 65-Jährige, bis 2014 selbst noch als Chefkontrolleur des HSV mittendrin statt nur dabei, zum Ende des Buches fragt: „Wie verlogen ist das Fußballgeschäft inzwischen?“
Frontal-Attacke auf viele Ex-Ratskollegen
Wer gehofft hat, noch nicht bekannte Interna aus Ertels Zeit im Aufsichtsrat beim HSV zu erfahren, der wird enttäuscht. Über fast alle relevanten Anekdoten und Anekdötchen aus dem 160-Seiten-Werk wurde so oder ähnlich schon einmal berichtet. Und trotzdem kommen auch Voyeure und Freunde von Gossip durchaus auf ihre Kosten.
Genau wie in seiner Zeit im Aufsichtsrat hält Ertel auch in seinem Buch nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg. Der frühere „Spiegel“-Journalist attackiert alte Weggefährten wie die früheren Aufsichtsratskollegen Otto Rieckhoff („Um den Sonnenkönig herum standen alle anderen im Schatten“), Jörg Debatin („Er hatte selten Zeit für unsere Sitzungen, aber er wusste fortan alles besser“), Jürgen Hunke („mangelndes Realitätsbewusstsein“), Christian Strauß („jetzt tut er mir fast leid“) frontal, er kritisiert die Vorstände Bernd Hoffmann („unser damaliger Vorsitzender fand sich wieder einmal so klasse, dass er wohl am liebsten jeden Morgen als Erstes sein eigenes Spiegelbild geküsst hätte“), Katja Kraus („Hoffmanns getreue Stellvertreterin“) sowie Joachim Hilke („Kühnes Marionette“) und schont auch Milliardär Klaus-Michael Kühne („Opa nervt“) und die mit ihm im Dauerclinch liegende „Bild“-Zeitung („es war vor allem eine Zeitung, die mich jagte“) nicht. Viele Passagen lesen sich wie die nachträgliche Abrechnung eines bitter Enttäuschten, der die Umwandlung des HSV, seines HSV, bis heute nicht überwunden hat. „Mein Verein? Der ist seit heute Geschichte“, schreibt Ertel über den 25. Mai 2014, als die Ausgliederung des HSV mit einer Mehrheit von 86,9 Prozent beschlossen wurde.
Rührende Anekdoten aus dem Fan-Leben
Es war wohl der Schlüsselmoment, der das Ende einer großen Liebe besiegelte. „Die Zeit der Mitglieder ist vorbei“, schreibt Ertel, der immer für einen basisdemokratischen Verein gekämpft hatte. Am Ende allerdings ohne Erfolg. Doch wie sehr der zweifache Familienvater, dessen Söhne Robin und Denny ebenfalls glühende HSV-Fans sind oder waren, mit der Ausgliederung hadert, wird vor allem in der zweiten Hälfte des Buches deutlich. „Das alles hätte ich nicht gewollt und mir in meinen schlimmsten Träumen so nicht vorzustellen vermocht“, schreibt Ertel.
Der Journalist lässt in seinen autobiografischen Erzählungen kaum ein HSV-Thema aus. Ertel schreibt einerseits fast schon rührend über seine erste HSV-Fahne („Ich wollte nichts anderes, um keinen Preis. Die Fahne. Oder nichts“), sein erstes Mal im Volkspark (4:1-Sieg gegen den FC Burnley) und das Veto seines Chefs, zum Europapokalfinale 1983 nach Athen zu reisen („Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte blieb mein persönliches Trauma“).
Die Folgen des Uli-Hoeneß-Witzes
Anderseits beschreibt er schonungslos, unversöhnlich und nicht gerade selbstkritisch seine Zeit im Aufsichtsrat, die sogenannte Maulwurfaffäre, die Folgen seines Facebook-Witzes über Uli Hoeneß, den Tag seines Rücktritts, ein geheimes Treffen mit Felix Magath in Berlin und ein Vieraugengespräch mit Kühne. Er berichtet von anonymen Anfeindungen im Internet und offenen Drohungen auf der Tribüne. „Ich hau dir auf die Fresse“, soll ein Fan beim Spiel in Berlin gesagt haben, nach einem tätlichen Angriff in Braunschweig schreibt er: „Ich war am Ende.“
Doch das wirkliche Ende seiner sechs Jahrzehnte währenden Liebe zum HSV wurde zweifelsohne am Tag der Ausgliederung besiegelt. Mittlerweile habe sich der Schmerz zwar gelegt, die Beziehung zu seinem ehemaligen Club des Herzens sei wie zu einer Ex-Freundin zumindest ungeklärt, aber ernüchternd gibt Ertel zum Schluss dann doch zu: „Es ist etwas kaputtgegangen.“