Hamburg. Auch gegen Schalke setzt Labbadia auf Sprint- und Ausdauerstärke. Über den sportlichen Erfolg sagen die Bestwerte aber nur wenig aus.
Das passiert Nicolai Müller selten. Sehr selten. Im Training am Dienstagmittag musste sich der schnellste HSV-Profi in einem Laufduell geschlagen geben. Der frech aufspielende Enes Küc aus dem U23-Regionalligateam hatte Ex-Nationalspieler Müller in einem Zweikampf den Ball abgelaufen. Da schaute der Rechtsaußen doch ein wenig irritiert. Schließlich hält Müller mit einer gemessenen Spitzengeschwindigkeit von 34,75 km/h nicht nur den teaminternen Saisonbestwert. Mit 37 angezogenen Sprints pro Spiel liegt der 28-Jährige sogar im ligaweiten Ranking vorne.
Nicht ganz so schnell, dafür umso mehr läuft sein Mittelfeldkollege Lewis Holtby. 12,24 Kilometer im Schnitt spult das selbst ernannte Duracell-Häschen des HSV in jedem Spiel ab. Damit zählt er hinter Herthas Vladimir Darida (13,0) zur Bundesligaspitzengruppe. Genau wie die gesamte Mannschaft. Hinter Mainz, Mönchengladbach und Hoffenheim liegt der HSV in der Liste der laufbesten Teams auf Platz vier. In den direkten Duellen rannten die Hamburger bis auf die Spiele gegen Hannover und Leverkusen immer mehr als der Gegner. Mitunter sogar deutlich mehr. „Die Power ist unsere Grundlage. Ich bin froh, dass sich die Entwicklung der Mannschaft auch in den Laufwerten widerspiegelt“, sagte Trainer Bruno Labbadia vor dem Spiel beim FC Schalke 04 an diesem Mittwoch (20 Uhr/Sky und Liveticker auf abendblatt.de).
Schlechter Zustand unter van Marwijk
Die Entwicklung der Hamburger Laufleistung begann vor rund zwei Jahren. „Ist der HSV zu faul für die Bundesliga?“, fragte die „Hamburger Morgenpost“ im Februar 2014, als Trainer Bert van Marwijk auch wegen des schlechten Fitnesszustandes der Mannschaft in die Kritik geriet und wenig später entlassen wurde. Nachfolger Mirko Slomka ließ nach dem Klassenerhalt in der Vorbereitung hauptsächlich Kondition bolzen. Unter Nach-Nachfolger Joe Zinnbauer verbesserten sich dann auch die Laufwerte, besseren Fußball spielte der HSV aber erst unter Nach-Nach-Nachfolger Bruno Labbadia. Zumindest etwas besseren.
Dass der HSV in dieser Saison nahezu jeder Mannschaft in der Laufstatistik überlegen ist, hat allerdings nur wenig mit der höheren Punkteausbeute im Vergleich zu den Vorjahren zu tun. Das meint Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Memmert beschäftigt sich unter anderem mit dem wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen der Laufleistung und dem Spielerfolg im Fußball. Mehrere Studien würden belegen, dass es letztlich gar keinen Zusammenhang gebe. Dafür reiche schon ein Blick auf die Platzierung des FC Bayern München in den Lauftabellen. Aktuell liegt der Meister in der Liste auf dem vorletzten Platz.
Nur einmal stand der HSV früh als Sieger fest
Neben dem klaren Positionsspiel mit hohem Ballbesitz sieht Memmert noch einen weiteren Grund, warum Bayern München weniger läuft als der HSV. „Eine Mannschaft, die einem Rückstand hinterherrennt oder eine knappe Führung behaupten muss, läuft in der Regel mehr als eine Mannschaft, die das Spiel frühzeitig entschieden hat und entsprechend ressourcensparend agiert“, sagt Memmert. Da der HSV in dieser Saison nur beim 3:0 in der Hinrunde in Gladbach frühzeitig als Sieger feststand, musste die Mannschaft entsprechend oft mehr laufen. Im Rückspiel gegen die Borussia lief der HSV früh einem Rückstand hinterher und gewann am Ende dank einer Energieleistung mit 3:2. „Durch den hohen Laufaufwand haben wir zurück ins Spiel gefunden“, sagte Labbadia.
Dass hoher Laufaufwand nicht gleichzeitig höheren Ertrag bedeutet, hat der HSV in anderen Spielen bewiesen. Selbst in den schwächsten Partien in Berlin (0:3) und in Stuttgart (1:2) liefen die Hamburger mehr als der Gegner. „Wir haben festgestellt, dass wir zwar viele Sprints machen, die meisten jedoch in die falsche Richtung. Nämlich rückwärts“, erklärte Labbadia im Interview mit „goal.com“. „Das bedeutet, dass man nicht gut geordnet ist und zu viele Ballverluste produziert. Dann läuft man hinterher. Laufen allein ist kein Qualitätsmerkmal. Wir müssen uns dahingehend verbessern, mehr Sprints nach vorne als zurück zu absolvieren.“ Labbadia bestätigt damit die Einschätzung von Wissenschaftler Memmert. „Wichtiger als die Gesamtlaufleistung sind die Sprintwerte. Da liegen die besten Mannschaften der Welt vorne“, sagt Memmert. Entscheidend seien dabei die Sprints gegen den Ball, um diesen zu erobern, sowie die Sprints in die Räume, in denen man für Torgefahr sorgt. „Laufen alleine reicht nicht. Entscheidend ist, warum und wohin ich laufe“, sagt Memmert.
Holtby läuft jetzt wirkungsvoller
Dauerläufer Lewis Holtby ist dafür ein gutes Beispiel. Auch in der vergangenen Saison war der ehemalige Schalker laufbester HSV-Profi, doch erst in dieser Spielzeit setzt er die Wege wirksam ein. „Von einem zentralen Mittelfeldspieler erwarte ich eine hohe Laufleistung. Wichtig ist die taktische B-Note“, sagt Memmert. Ähnlich ergeht es Müller, dessen zahlreiche Sprints zielführender geworden sind.
Einen Vorteil sieht Memmert dann aber doch in den Laufstatistiken: einen psychologischen Vorteil. „Die Trainer können ihren Spielern ein Feedback geben und ihnen damit verdeutlichen, dass ihre Bereitschaft stimmt.“ Damit würden die Spieler wiederum zu neuen Höchstleistungen motiviert. Denn die wird der HSV brauchen, um auf Schalke am Ende nicht nur in der Laufwertung vorne zu liegen.