Nach dem 0:3 in Hoffenheim rutscht der HSV auf einen Abstiegsrang. Trainer van Marwijk, der auf einen Heimattrip verzichtet, droht das baldige Aus.
Sinsheim/Hamburg. Zumindest der Flugbegleiter wollte sich die gute Laune nicht verderben lassen. „Ganz besonders begrüßen wir unsere Freunde vom HSV“, gab der Steward über das Bordmikrofon am späten Sonnabend zum Besten, kurz nachdem die HSV-Profis, die auf dem Weg aus Hoffenheim auf der A6 im Stau gestanden waren, die LH032-Maschine betreten hatten. Erst 40 Minuten nach dem Boarden kam der HSV-Tross am Flughafen Frankfurt an – und durften sich somit über einen nicht mehr erwarteten Erfolg an einem ansonsten apokalyptischen Spieltag freuen.
0:3 gegen Hoffenheim verloren, mit der fünften Niederlage in Folge den Vereinsnegativrekord eingestellt und keine Besserung in Sicht. Am Sonntag folgte zu allem Überfluss durch den 3:1-Sieg des 1. FC Nürnberg bei Hertha BSC auch noch der Sturz auf den direkten Abstiegsplatz 17. „Das war ein Tag zum Vergessen“, sagte HSV-Chef Carl Jarchow, der umgehend nach dem Start von Platz 8D auf 4C wechselte, um den Flug nach Fuhlsbüttel zur sofortigen Krisenanalyse mit Sportchef Oliver Kreuzer – auf Platz 4D – zu nutzen. „Mir ist schon klar, dass jetzt die Fragen nach dem Trainer kommen“, sagte Jarchow noch im Flieger, „aber ich glaube nicht, dass die Frage nach dem Trainer momentan die richtige ist.“
Gestellt wurde sie am Tag nach dem Desaster dennoch, mehrfach und in allen möglichen Varianten. „Zu 100 Prozent bleibt Bert van Marwijk unser Trainer“, antwortete Sportchef Kreuzer, der noch während der niederländische Trainer das Vormittagstraining auf einem Nebenplatz leitete in der Buseinfahrt der Arena von einem Duzend Kamerateams und rund 50 Medienvertretern zur Rede gestellt wurde.
Anders als in der jüngeren HSV-Vergangenheit soll also der Trainer, traditionell immer das schwächste Glied in der Bundesliga-Nahrungskette, trotz des zuletzt gebotenen fußballerischen Offenbarungseides bleiben – zumindest vorerst. Ändern soll er sich aber auch, das machte Kreuzer seinem leitenden Angestellten in einem Vieraugengespräch am frühen Sonntagmorgen offenbar deutlich. Van Marwijk, der noch in der Vorwoche ausführlich über ihm vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse referierte, nach denen zu viel Training schaden würde, soll in der kommenden Woche auf einen freien Tag und den obligatorischen Heimaturlaub verzichten. Vor allem soll er aber mehr und intensiver trainieren. Zum Vergleich: Am Sonntag mussten die Verlierer vom Vortag gerade mal 26 Minuten lang auslaufen. Trainiert wird nun täglich, am Mittwoch zweimal und für Donnerstag und Freitag soll Teammanager Marinus Bester die Option prüfen, in ein Kurztrainingslager vor dem so wichtigen Spiel gegen Hertha BSC zu reisen. Training satt also als Kontrast zum bisherigen Wohlfühlprogramm.
HSV läuft neun Kilometer weniger als die TSG
Dass es durchaus Nachholbedarf gibt, hätte beim Betriebsausflug am Sonnabend nach Sinsheim nicht deutlicher werden können. Mit 114,1 gelaufenen Kilometern rannten die Hamburger, die laut Statistik lauffaulsten Profis der Bundesliga, erneut neun (!) Kilometer weniger als ihre Gegner aus Hoffenheim. Gerade mal 172 Sprints zogen die HSV-Spieler an – meistens um den gerade erst verlorenen Ball hinterherzurennen –, 227 Sprints zählten die Statistiker dagegen auf Seite der Kraichgauer. „Wir hatten fast 70 Prozent Ballbesitz“, konterte van Marwijk, der allerdings auch nicht verhehlen konnte, dass sich seine Mannschaft gegen die zuvor noch schlechteste Defensive der Liga aus dieser drückenden Überlegenheit erst nach 72 Minuten durch den eingewechselten Ivo Ilicevic eine Halbchance erspielte. „Das war zu wenig heute“, gab der Holländer anschließend zu.
Umgekehrt führten die drei Gegentore dazu, dass der HSV 1899 als abwehrschwächstes Team der Bundesliga ablöste. Beim frühen 0:1 nutzte Firmino eine bei Zhi Gin Lam startende Fehlerkette (4.). Beim 0:2 ließen sich die beiden Neu-Niederländer Ola John (siehe unten) und Ouasim Bouy an der Eckfahne ausspielen, Jonathan Tah und Jaroslav Drobny passten nicht auf und Lam verlor das Kopfballduell gegen Niklas Süle (44.). Und auch beim 0:3 ließ sich die gesamte HSV-Hintermannschaft vorführen (61.). „Das war amateuristisch von uns“, kommentierte van Marwijk in niederländisch-deutsch.
Ziemlich amateuristisch war sogar die Krisenbewältigung nach der Partie. So ließ Dennis Diekmeier in Sinsheim wissen, dass außer Heiko Westermann niemand Stellung beziehen sollte. Westermann selbst wollte aber auch nichts kommentieren – im Gegensatz zu Milan Badelj, bei dem das abgesprochene Schweigegelübde offenbar nicht angekommen war. Der Trainer sei nicht das Problem, sagte der Kroate, der sich aber selbst schwertat, Erklärungen für „diesen Scheißtag“ zu finden. Lediglich Kapitän Rafael van der Vaart, dem so gar nichts gelingen wollte, nahm sich Zeit für eine – etwas eigenwillige – Analyse. Es fehle an Qualität, sagte er beim TV-Sender Sky, so mache Fußball keinen Spaß: „Wie wir die Tore kassieren – ich kann es nicht mehr sehen. Auf dem Platz war es eine Katastrophe.“
Eine Katastrophe, die van Marwijk bis spätestens Sonnabend um 18.30 Uhr zum Anpfiff gegen Hertha entschärfen muss. „Ich habe mir über meinen Job noch keine Gedanken gemacht. Das mache ich auch nicht“, sagt der 61 Jahre alte Fußballlehrer, „aber wenn man denkt, dass ein anderer das besser kann, soll man mir das sagen.“
Die Gedanken sind bekanntlich frei, doch wirklich sagen, das steht vorerst fest, wird niemand etwas – zumindest nicht vor dem Spiel gegen Hertha BSC. Apocalypse Now beim HSV.