Nach dem denkwürdigen Spiel der DFB-Auswahl gegen Schweden fordert Manager Bierhoff eine knallharte Analyse. Löw: „Vieles schiefgelaufen”.
Berlin. Mit versteinerter Miene stand Bundestrainer Joachim Löw im ARD-Studio bei Moderator Reinhold Beckmann und Experte Mehmet Scholl. Nur die Wundwinkel bewegten sich langsam hoch und runter. Löw war geschockt. Nach einem denkwürdigen Länderspiel versuchte der Trainer zu analysieren, wie seine Spieler innerhalb weniger Minuten vom Rauschzustand zur Schockstarre mutierten. „Wir haben 60 Minuten überragend gespielt, was Kombinationen, Abschluss, Ordnung und Disziplin betraf. In den letzten 30 Minuten haben wir unheimlich viel falsch gemacht”, sagte Löw. „Wir hatten nicht mehr die Ordnung und die Sicherheit am Ball, plötzlich war eine große Unruhe da bei uns. Da ist vieles schiefgelaufen, wir haben das Spiel nicht mehr in den Griff bekommen. Das muss man analysieren.“
+++ Der Spielverlauf im Liveticker +++
Mit dem Gerd-Müller-Jäger Miroslav Klose sorgte die deutsche Nationalmannschaft in Berlin eine Stunde lang für das schönste Fußballfest in einem Heimspiel des Jahres 2012, um dann noch ein böses Erwachen zu erleben. Beim 4:4 (3:0) gegen Schweden am Dienstagabend verspielte das Team einen Vier-Tore-Vorsprung innerhalb einer halben Stunde und verpasste damit den vierten Erfolg im vierten WM-Qualifikationsspiel.
„So kurz nach dem Spiel kann ich das nicht erklären“, zeigte sich Löw nach dem Schlusspfiff ratlos und versuchte dennoch, eine Erklärung für den plötzlichen Leistungsabfall zu finden: „Das Problem begann wahrscheinlich nach 60 Minuten im Kopf. Wir wurden nachlässig und hatten nicht mehr die nötige Disziplin“. Die Mannschaft sei nun zwar wahnsinnig enttäuscht, das Spiel werde sie aber nicht aus der Bahn werfen.
„Das ist sehr, sehr bitter. Wenn man 4:0 führt und dann das 4:4 kassiert, haben wir irgendetwas falsch gemacht, scheinbar das Spiel zu früh abgehakt. Da müssen wir uns hinterfragen“, sagte Kapitän Philipp Lahm.
Nach den Toren von Klose, der mit seinen Länderspiel-Treffern 66 und 67 bis auf einen Treffer zum Rekord von Gerd Müller aufrückte, sowie Toren von Per Mertesacker (39.) und Mesut Özil (56.) verlor die deutsche Elf vor 72.362 Zuschauern die Linie und musste sich nach den Gegentreffern von Zlatan Ibrahimovic (62.), Mikael Lustig (64.) Johan Elmander (76.), Rasmus Elm (90. +3) mit einem Punkt zufriedengeben.
“So etwas passiert, wenn es scheinbar zu einfach ist”, sagte Toni Kroos, und Bastian Schweinsteiger fand die Wende “unerklärlich”. So etwas habe er noch nie erlebt. “Jeder hat sich zu sicher gefühlt und einen Schritt weniger gemacht. Das darf im Leben nicht passieren.”
Oliver Bierhoff fand nach dem Spiel deutliche Worte. Der Manager der Nationalelf kündigte eine konsequente Aufarbeitung an. „Wichtig ist, den Finger in die Wunde zu stecken. Man darf nicht zur Tagesordnung übergehen. Man wird das knallhart analysieren“, sagte Bierhoff. Der Manager sieht nicht nur das einmalige Negativ-Erlebnis gegen die Schweden. „Das sind die Dinge, die ich auch nach der Europameisterschaft gesagt habe, dass wir häufig den Fehler haben, dass wir unsere Gegner dominieren und dann durch Nachlässigkeiten wieder ins Spiel bringen“, betonte Bierhoff mit Hinweis auf einige EM-Spiele sowie das WM-Qualifikationsmatch kürzlich in Österreich.
Dennoch besitzt die DFB-Auswahl in der Gruppe C noch drei Punkte Vorsprung vor dem ersten Verfolger Schweden. Alle anderen Mannschaften haben schon mindestens einmal verloren, die deutsche Elf befindet sich mit der fast optimalen Punktausbeute von zehn Zählern vor den nächsten Spielen gegen Kasachstan im März schon auf klarem Kurs zur WM 2014 in Brasilien.
Klose rückte mehrfach in den Fokus der begeisterten Fans. Vor seinen frühen Toren in der 8. und 15. Minute hatte der Pfälzer die Fairplay-Auszeichnung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) entgegengenommen, weil er kürzlich in einem Spiel mit seinem Verein Lazio Rom zugab, ein dann nicht anerkanntes Tor regelwidrig mit der Hand erzielt zu haben. Er wolle ein Vorbild für die Jugend sein, hatte Klose am Montag erklärt. Seine Tore in seinem 126. Länderspiel waren dann lupenrein und zudem herrlich vorbereitet von den großartig aufspielenden Mittelfeldkünstlern Mesut Özil und Marco Reus. Sie wirbelten, unterstützt von Schweinsteiger und Kroos, durch die Abwehr der Skandinavier. Reus bereitete beide Klose-Treffer vor, das zweite Tor entstand aus einer der perfektesten Kombinationen, die eine deutsche Elf seit den letzten Titelgewinnen 1996 und 1990 präsentierte.
Das dritte Tor erzielte Mertesacker (39.), und die Freude des Innenverteidigers des FC Arsenal war so groß wie der Jubel von Klose. Der Verteidiger des FC Arsenal lief nach dem Treffer aus sieben Metern, vorbereitet mit einem Kopfball von Thomas Müller, zur Betreuerbank, um das besondere Ereignis mit den Helfern zu feiern. Es war im 84. Länderspieleinsatz erst das zweite Tor von Mertesacker, sein erstes hatte er beim 4:3 gegen Australien beim Confed-Cup 2005 erzielt. Das 4:0 schoss Özil (54.), ehe sich plötzlich Unkonzentriertheiten einschlichen, die die Skandinavier nutzten. Nach Flanke von Kim Källström köpfte Zlatan Ibrahimovic aus neun Metern zum 4:1 (62.) ein, zwei Minuten später überwand Mikael Lustig den Keeper zum zweiten Mal (64.).
DFB-Team mit sieben Bayern – Schmelzer fiel verletzt aus
Die deutsche Mannschaft begann mit sieben Spielern des FC Bayern, weil Marcel Schmelzer (Dortmund) wegen einer Fußstauchung und Sami Khedira (Real Madrid) erwartet wegen Muskelproblemen im Oberschenkel im Vergleich zum 6:1 in Irland durch Philipp Lahm und Kroos ersetzt wurden. Nach 100 Sekunden traf Müller nach seiner Vorarbeit den Pfosten. Anschließend wurden die Schweden in der eigenen Hälfte eingeschnürt, dann schwindlig gespielt. Ihr Superstar Ibrahimovic kam bis in die zweite Halbzeit ebenso wenig ins Spiel wie seine Teamkollegen. Bis zur 60. Minute erwies sich der angeblich stärkste Gruppengegner als überfordert – gegen eine deutsche Elf, die ihre im EM-Halbfinale gegen Italien beginnende und bis in den September reichende Schwächephase zunächst vergessen machte.
Perfekt herausgespielt gegen die Gäste-Elf, in der Trainer Erik Hamren vier Umstellungen gegenüber dem 2:1 im Auswärtsspiel gegen die Färöer am Freitag vorgenommen hatte, waren die Tore. Die Klose-Treffer wurden über die linke Seite eingeleitet, wo der Dortmunder Reus mit Lahm das 1:0 vorbereitete. Klose jagte den Ball aus neun Metern von halblinks per Linksschuss unter die Latte. Fußballerische Extraklasse blitzte auf, wenn Özil und Reus kombinierten. Nach einem doppelten Doppelpass legte Reus einen Pass von Müller von der Grundlinie zurück auf Klose, der im Fünfmeterraum im Nachsetzen das 2:0 machte. Der Mittelstürmer wurde vom Publikum gefeiert, ihm fehlte nur noch ein Tor, um Gerd Müller mit 68 Treffern als DFB-Rekordtorschütze einzuholen.
Nach der Pause zauberte die deutsche Mannschaft weiter, bis sie plötzlich den Faden verlor und damit die Schweden stark machte. Am Ende blieben Fans wie Spieler fassungslos zurück.
Deutschland: Neuer - Boateng, Mertesacker, Badstuber, Lahm - Kroos, Schweinsteiger - Müller (67. Müller), Özil, Reus (88. Podolski) - Klose.
Schweden: Isaksson - Lustig, Granqvist, J. Olsson, Safari - Wernbloom (46. Källström), Elm - Larsson (78. Sana), Ibrahimovic, Holmen (46. Kacaniklic) - Elmander.
Tore: 1:0 Klose (8.), 2:0 Klose (15.), 3:0 Mertesacker (39.), 4:0 Özil (55.), 4:1 Ibrahimovic (62.), 4:2 Lustig (64.), 4:3 Elmander (76.), 4:4 Elm (90.+3).
Gelb: Reus (2), Lahm, Schweinsteiger / Isaksson.
Schiedsrichter: Pedro Proenca (Portugal).
Zuschauer: 72 369 (ausverkauft).