Hamburg. Wie der Hamburger Ruderer es trotz einiger Rückschläge geschafft hat, das Ziel Olympia nicht aus den Augen zu verlieren.
Die geballten Fäuste gen Himmel gestreckt, steht Tim Ole Naske im gelben Rennbot, während seine drei Teamgefährten völlig ausgepumpt auf ihren Rollsitzen kauern. Selbst wer noch nie ein Ruderrennen gesehen hat, sieht bei dem Bild sofort, dass dieser Mannschaft etwas Außergewöhnliches gelungen sein muss.
Neun Monate nachdem dieses Foto bei der Ruder-WM 2023 in Belgrad entstand, treffen wir Naske an einem kühlen Juli-Morgen im Clubraum der Ruder-Gesellschaft Hansa an der Außenalster. Der 28-Jährige erinnert diesen September-Tag, als wäre es gestern gewesen: „In dem Moment ist so viel Last von uns abgefallen.“
Naskes Schlüsselerlebnis: Die WM 2023 in Belgrad
Der dritte Rang im Halbfinale reichte dem Vierer mit Anton Finger, Moritz Wolff (beide Berlin) und Max Appel (Magdeburg) für das WM-Finale – und bedeutete zugleich das ungleich wichtigere Ticket für die Olympischen Spiele in Paris. Auf der 2000-Meter-Strecke sagte Bugmann Finger bereits nach 1400 Metern den Endspurt an – eigentlich viel zu früh. Doch der Berliner hatte gesehen, dass die Ukraine hinter den führenden Booten aus Polen und Italien zu enteilen drohte. Das deutsche Quartett mobilisierte bei Wind und Wellen die letzten Kräfte. „Wir sind förmlich an der Ukraine vorbeigeflogen“, sagt Naske.
In gewisser Weise spiegelt dieses Halbfinale die Karriere des Jura-Studenten. Rückschläge wegstecken, Kämpfen für das große Ziel, sich Quälen können. Weiter, immer weiter.
Im Junioren-Bereich galt Naske als Einer-Hoffnung
Im Junioren-Bereich galt Naske als größte deutsche Hoffnung im Einer, als möglicher Nachfolger der Legenden Peter-Michael Kolbe und Thomas Lange,. Er gewann die Junioren-WM 2014 in Hamburg mit über 20 Sekunden Vorsprung, holte im selben Jahr Gold bei den Olympischen Jugendspielen in Nanjing, wurde 2016 U-23-Weltmeister in Rotterdam. Als Deutscher Meister 2017 und 2018 war er gesetzt für die Ruder-WM 2018 in Bulgarien.
Doch statt Naske nominierte der Deutsche Ruderverband Oliver Zeidler, der erst zwei Jahre zuvor vom Schwimmen zum Rudern gewechselt war. Der Bayer, ein Kraftpaket, 2,03 Meter lang und damit fast einen Kopf größer als der Hamburger (1,85 Meter), hatte die Trainer vor allem mit seiner enormen Physis beeindruckt.
Ruderer wie Naske: kämpfen bis zur totalen Erschöpfung
Manche Sportler wären an einem solchen Tiefschlag zerbrochen. Auch bei Naske saß die Enttäuschung tief: „Man kann aus sportlichen Gründen eine solche Entscheidung treffen. Aber die Kommunikation mit mir war respektlos. Der Verband hat mich komplett hängen lassen.“ Doch den olympischen Traum begraben? Undenkbar für einen wie ihn.
Wie sehr sich der Hamburger gequält hat, um sein Ziel, die Olympischen Spiele in Tokio, doch noch zu erreichen, dokumentiert der Film „Sxulls“ – ein Wortspiel mit Skulls, also der Ruderdisziplin, in der die Athleten in jeder Hand ein Ruder führen. Drei Jahre begleiteten die Dokumentarfilmer 15 Skuller bei ihren Kampf um ein Olympia-Ticket. Naske sagt in einer Sequenz, man müsse dafür „bis an die Kotzgrenze gehen“. Dass diese Grenze zuweilen überschritten wird, zeigen die Eimer neben den Ruder-Ergometern, auf denen die Sportler bis zur totalen Erschöpfung ziehen, um ein paar Sekunden schneller zu sein als der Konkurrent.
Naske setzte sich durch, steckte die Corona-Zwangspause weg, verkraftete die Verschiebung der Spiele durch die Pandemie um ein Jahr – und fuhr mit Appel sowie den Olympiasiegern Karl Schulze und Hans Gruhne zu den Spielen nach Tokio. Der Mix aus Routiniers und Newcomern schien nach guten Resultaten bei Weltcup-Rennen prädestiniert für Edelmetall – und kam dann nicht einmal ins A-Finale.
Bei Olympia in Tokio reichte es für Naske nur zum B-Finale
„Es war schon im Trainingslager vor den Spielen der Wurm drin“, erinnert sich Naske: „Und spätestens nach dem Vorlauf wussten wir, dass wir uns völlig verrannt hatten. In der kompletten Mannschaft gab es eine psychische Blockade.“ Am Ende reichte es nur zum zweiten Platz im B-Finale: „Unsere Enttäuschung war grenzenlos.“
Womöglich traf Naske nach diesem erneuten Tiefschlag die vielleicht beste Entscheidung seiner Karriere: Er legte in Absprache mit dem Verband ein Pausenjahr ein, konzentrierte sich auf sein Jura-Studium: „Die Enttäuschung über die Nicht-Normierung im Einer bei der WM, die schwierige Corona-Zeit, das Versagen in Tokio, dies hatte sehr an mir gezehrt. Ich habe viel über mich nachgedacht.“ Seine wichtigste Erkenntnis: „Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, dass ich mit Spaß an die Sache herangehe. Wenn ich zu fokussiert bin, rudere ich schlechter. Ich musste lernen, wieder lockerer zu werden.“ Was banal klingt, war kein einfacher Weg für einen Athleten wie Naske, der im Training oft gebremst werden muss, weil er einfach zu viel will.
Pausenjahr half Naske, neue Motivation zu schöpfen
Nun also der Neustart. Wobei der Begriff Pausenjahr in die Irre führt. Naske trainierte auch in den Monaten nach Tokio dreimal die Woche, vor allem auf dem Rennrad. „Defizite hatte ich nach der Pause in erster Linie im Kraftbereich“, sagt Naske. Die sind längst behoben. Und dank Bestzeiten auf dem Ruder-Ergometer sowie seiner außergewöhnlich guten Technik schaffte er das Comeback im neuformierten Vierer.
Trotz aller Rückschläge im Saisonendspurt – Schlagmann Wolff fiel mit Mandelentzündungen und anschließender Operation neun Wochen aus – geht Naske das Abenteuer Paris optimistisch an. Dem Team liege die Außenseiterrolle, die Favoritenbürde laste auf der Konkurrenz. Vor allem stimme die Harmonie im Vierer – und bezieht dabei Ersatzmann Julius Rommelmann (Mülheim) ausdrücklich mit ein. Es gebe nicht mehr das teaminterne Gefälle wie in Tokio – hier die Olympiasieger, dort die Novizen. Sondern ein „The-boys-in-the-boat-Feeling“. Jungs, vereint in einem Boot. „Wir haben als Mannschaft unfassbar viel Bock, miteinander erfolgreich zu sein“, sagt Naske.
Für Wolff und Finger werden es die ersten Spiele, für Appel und Naske in gewisser Weise auch. Denn echtes olympisches Flair konnte in Tokio angesichts der Corona-Auflagen nicht aufkommen – alle Wettkämpfe fanden ohne Zuschauer statt.
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Am 27. Juli wird das Vaires-sur-Marne Nautical Stadium mit 24.000 Plätzen ausverkauft sein, wenn die Doppel-Vierer ab 12:30 Uhr in die Vorläufe starten. „Dann zählt es“, sagt Naske. Sollte der Einzug ins Finale gelingen, sei alles möglich. Auch ein Foto wie nach dem Olympiasieg 2016 in Rio. Damals stand Bugmann Kai Schulze im Boot und riss die Arme nach oben. Genau wie Naske sieben Jahre später nach der Qualifikation in Belgrad.