Hockey-Nationalspielerin Anne Schröder spricht über die Heim-EM, fehlenden Stellenwert des Sports und worüber sie sich ärgern kann.

Seit zehn Jahren zählt Anne Schröder zum Kader der deutschen Hockeydamen. Ihr Weg von einem der hoffnungsvollsten Talente zur unverzichtbaren Führungsspielerin ist durchaus beeindruckend, einen Titel jedoch konnte die 28-Jährige mit Deutschland auf dem Feld noch nicht gewinnen. Auch ein Heimturnier hat die Mittelfeldregisseurin vom Club an der Alster noch nie erlebt. Höchste Zeit also, dass sich das mit dem EM-Auftaktspiel am Freitag (19.30 Uhr) in Mönchengladbach gegen Schottland ändert.

Hamburger Abendblatt: Frau Schröder, 2014 gaben Sie bei der WM in den Niederlanden Ihr Debüt bei einem internationalen Großevent. Zehn Jahre danach dürfen Sie erstmals ein Heimturnier spielen. Woran spüren Sie, dass etwas anders ist als sonst?

Anne Schröder: An vielen Dingen. Der Deutsche Hockey-Bund ist viel mehr hinterher, dass es uns gut geht. Das Wohl des Teams steht mehr im Fokus, wir werden viel mehr eingebunden. Einen Vorgeschmack darauf, welche Atmosphäre uns erwarten wird, haben wir in der Vorbereitung auf unserer Testspieltour durch Hessen bekommen. Das war teilweise atemberaubend und hat unsere Vorfreude total angefacht, denn in unserem Kader hat noch keine Spielerin ein Heimturnier erleben dürfen.

Heim-EM setzt Energie frei

In der Heimat bestehen zu müssen, kann allerdings auch für ungewohnten Druck sorgen. Wie begegnen Sie dem?

Mit großer Offenheit. Uns ist schon bewusst, dass es etwas anderes ist, Gastgeber zu sein, anstatt, wie wir es schon so oft erlebt haben, in den Niederlanden als eine Art Begleitband anzutreten. Aber in unserer Mannschaft wird alles angesprochen, von dem wir das Gefühl haben, dass es notwendig ist. Jede darf ihre Ängste und Sorgen frei äußern. Deshalb haben wir auch über die Erwartungshaltung bei einem Heimturnier gesprochen. Mein Eindruck ist aber, dass das unser Team nicht hemmen, sondern im Gegenteil viel positive Energie freisetzen wird, weil wir es als riesiges Privileg ansehen, zu Hause um den Titel zu spielen.

Positive Energie wird die Mannschaft brauchen, denn die Niederlande kommen als klarer Titelfavorit nach Mönchengladbach. Warum, denken Sie, ist Deutschland zehn Jahre nach dem bislang letzten EM-Triumph so weit, die Dominanz zu brechen und nach zuletzt zwei EM-Finalniederlagen gegen Holland nun den Titel zu holen?

Der Druck liegt im Damenhockey immer auf den Niederlanden, das kann unser Vorteil sein. Wir sind ganz nah dran und wissen, dass es nicht utopisch ist, sie zu besiegen. Phasenweise haben wir sie mit unserem Ballbesitzstil schon dominiert, aber wir müssen es schaffen, das mit viel Energie, Durchsetzungsvermögen und Überzeugung 60 Minuten lang auf den Platz zu bringen. Das ist es, was uns die Niederlande noch voraushat, gepaart mit dem Selbstbewusstsein, das man als amtierender Olympiasieger, Welt- und Europameister eben hat.

Schwarzer Tag in Tokio

Seit eineinhalb Jahren ist Valentin Altenburg Bundestrainer, unter ihm wurden Sie im vergangenen Jahr WM-Vierte, nachdem Sie unter seinem Vorgänger Xavier Reckinger bei den Olympischen Spielen 2021 im Viertelfinale ausgeschieden waren. Besonders die Probleme in K.-o.-Spielen wollten Sie gemeinsam angehen. Was macht Altenburg anders als sein Vorgänger?

Ich war ja schon 2016 beim Gewinn der olympischen Bronzemedaille unter Jamilon Mülders dabei, der war Vali in seiner Ausrichtung sehr viel näher als Xavier Reckinger. Aber was bei Vali einzigartig ist, ist die Bedeutung, die er der Individualität beimisst. Jede Spielerin hat nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar die Pflicht, ihre persönlichen Stärken einzubringen. Wo sich andere darüber beklagen, dass wir nicht, wie die meisten anderen Topnationen im Hockey, zentralisiert trainieren, will er die Dezentralisierung bewusst als Vorteil und Stärke nutzen, eben weil dadurch Individualität gefördert wird.

Und das ist wofür wichtig?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Unter Reck haben wir komplett nach dem vom Trainer vorgegebenen System gespielt. Das hat lange Zeit gut funktioniert, bis wir im olympischen Viertelfinale in Tokio gegen Argentinien total zusammengebrochen sind, weil das System nicht wirksam war und wir trotz hoher individueller Klasse keinen Plan B hatten. Das war für viele von uns der schwärzeste Moment der Karriere, und wir haben uns damals geschworen, dass wir alles tun werden, um so etwas nie wieder erleben zu müssen. Nun haben wir zwar auch Systeme, Strategien und Taktiken, an die wir uns halten sollen. Aber jede Spielerin ist frei, ihre Stärken einzubringen, um aus Mustern auszubrechen, wenn es nötig ist. Ich zum Beispiel bin ausdrücklich angehalten, trotz meiner Position im zentralen Spielaufbau, auf der Ballverluste gefährlich sein können, ins Eins-gegen-eins zu gehen.

Von Spiel zu Spiel denken

Derlei Verantwortung kann nur von Spielerinnen getragen werden, die über hohe Spielintelligenz und gute Eigenwahrnehmung verfügen. Wie trainieren Sie das?

Indem wir für viele unterschiedliche Teilbereiche kleine Expertengruppen bilden, in denen jede Spielerin einen Teil der Verantwortung auf ihren Schultern trägt. Wir haben keinen klassischen Mannschaftsrat, sondern arbeiten sehr handlungsbasiert und setzen uns Teilziele, für deren Erreichen jede Einzelne sich verantwortlich fühlt. Das stärkt das Teamgefühl aller und macht auch kleine Ziele wichtig.

Bei dieser EM sollte das große Ziel der Titel sein, der die direkte Qualifikation für die Olympischen Spiele 2024 in Paris bedeutet und Ihnen ein Qualifikationsturnier Anfang kommenden Jahres ersparen würde. Wie offensiv gehen Sie dieses Ziel an?

Ich persönlich will jeden Wettbewerb, den ich spiele, auch gewinnen. Wir als Team haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass uns hoch gesteckte Ziele hemmen können. Deshalb, auch wenn das nach Phrasenschwein klingt, tun wir gut daran, von Spiel zu Spiel zu denken und immer das nächste Spiel gewinnen zu wollen. Der Ansatz in unserem Team ist, anstelle der Angst, etwas verlieren zu können, lieber an die Chance, etwas gewinnen zu können, zu denken.

Master in Psychologie geschafft

Ein Anreiz, das Finale zu erreichen, dürfte auch sein, dass dieses dann live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt würde. Bis dahin laufen Ihre Spiele und auch die der Herren, die immerhin Weltmeister sind, nur im Stream. Ärgern Sie sich darüber, dass Ihre Fußball spielenden Kolleginnen bei einem Turnier am anderen Ende der Welt vom ersten Vorrundenspiel an live im TV zu sehen waren, Sie aber das Finale der Heim-EM erreichen müssen?

Was die deutschen Fußballerinnen angeht: Da verstehen wir uns eher als Gemeinschaft im Frauensport und freuen uns sehr, dass sie endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen gebührt. Das Thema ist eher generell das in Deutschland herrschende Missverhältnis zwischen Fußball und den anderen Sportarten. Aber ich habe aufgehört, mich darüber zu ärgern, sondern nehme es als Ansporn, weil ich weiß, dass da noch viel mehr ginge. Etwas anderes ärgert mich viel mehr.

Und zwar?

Wenn im Fußball ein Nationalspieler wie Robin Gosens postet, dass er ein Bachelorstudium in Psychologie beginnt, ist das eine Riesengeschichte. Ich habe im vergangenen Jahr meinen Master in Psychologie abgeschlossen, habe trotzdem seit zehn Jahren alle Turniere im Nationalteam mitgespielt und sicherlich nicht weniger Aufwand betrieben, und so geht es vielen im Hockey und in vielen anderen Sportarten auch. Darüber wird aber nicht oder nur am Rande berichtet. Dass derart mit zweierlei Maß gemessen wird, darüber können wir uns im Team sehr ärgern.

Dyn bietet Hockey Chancen

Worin liegt dieses Missverhältnis zwischen dem Fußball und den anderen Sportarten begründet? Hockey ist doch immerhin der erfolgreichste deutsche Teamsport bei Olympia. Warum hängen Sie dennoch in der Nische fest?

Ich bin generell kein Fan davon, die Medien zu beschuldigen. Natürlich wäre es hilfreich, wenn wir vor einer Heim-EM auch öfters die Möglichkeit hätten, so präsentiert zu werden, wie es mit den Fußballerinnen vor der WM gemacht wurde. Aber wir müssen uns an die eigene Nase fassen und zugeben, dass wir uns schlauer aufstellen könnten. Wir nutzen die Potenziale, die unser Sport bietet, noch viel zu wenig, weil wir zu selten „out of the box“ denken und in unserem System verharren. Mit dem neuen Streamingdienst Dyn, der von der kommenden Saison an die Hockey-Bundesliga überträgt, haben wir eine neue Chance. Die sollten wir nutzen.

Teilen Sie das Gefühl, dass das generelle Sportinteresse weiter nachlässt, weil der Fußball alles erdrückt?

Auf jeden Fall. Es ist ein Teufelskreis, denn wer keine Plattform erhält, kann auch nicht bekannt werden. Vor 20, 30 Jahren waren Olympiasieger in Deutschland sicherlich deutlich bekannter, als sie es heute sind. Durch das Internet kommt man heute an so umfangreiche Informationen zu seinem Lieblingssport, dass viele nicht mehr links und rechts schauen und deshalb beim Fußball hängen bleiben. Mein Freund und ich zahlen 100 Euro im Monat für Streaming-Abos, um jeden Sport zu sehen, der uns interessiert, wir gehen auch oft live zu anderen Sportarten. Aber wer macht das noch?

1000 Euro Förderung verloren

Tatsächlich hat die deutsche Jugend einer Umfrage zufolge immer weniger Interesse am Leistungssport. Dabei hat nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt, welchen Beitrag Sport zum Funktionieren der Gesellschaft leisten kann. Wird dem ausreichend Rechnung getragen?

Ich sehe mit Sorge, dass der Stellenwert des Leistungssports immer weiter abnimmt. 2013, als ich ins System kam, gab es bei der Stiftung Sporthilfe den Ansatz, erfolgsunabhängiger zu fördern, um Athletinnen und Athleten langfristig im Leistungssport zu halten. Jetzt ist es so, dass sehr viel auf die Jugend geschaut wird, aber die, die nach dem Studium auf dem Sprung ins Berufsleben stehen, oft vergessen werden, weil das Geld fehlt. Ein Beispiel: Die Niederlage im Spiel um Platz drei bei der WM 2022 hat einige Spielerinnen in unserem Team rund 1000 Euro Förderung pro Monat gekostet. Das ist Wahnsinn, und da darf sich niemand wundern, dass viele im mittleren Alter aufhören. Nicht, dass ich falsch verstanden werde, wir alle sind der Sporthilfe zutiefst dankbar, ohne sie ginge es gar nicht. Aber wir müssen um jeden Cent kämpfen, und da bleiben leider einige auf der Strecke.

Angesichts all dieser Unwägbarkeiten: Würden Sie heute einem jungen Talent, wie Sie es 2013 waren, noch empfehlen, Ihrem Weg nachzueifern?

Wenn jemand Feuer und Flamme dafür ist und mit aller Leidenschaft in den Leistungssport drängt, würde ich immer dazu raten. Wer jedoch mit 18 schon zweifelt, ob es der richtige Weg ist, dem rate ich, lieber etwas anderes in Erwägung zu ziehen.

Karriereende nach Paris 2024?

Warum war der Weg für Sie der richtige? Haben Sie nie das Gefühl gehabt, auf etwas verzichten zu müssen?

Natürlich habe ich verzichten müssen, aber es hat mich nie gestört. Manche glauben, dass es hart ist, nicht jedes Wochenende mit dem Freundeskreis feiern gehen und Alkohol trinken zu können. Aber ich feiere lieber ab und zu mal richtig einen sportlichen Erfolg, als mir jedes Wochenende grundlos auf dem Kiez einen reinzustellen. Und ich bin überzeugt davon, dass Karrieren im Hockey und auch vielen anderen Sportarten nachhaltiger sind als Fußballkarrieren, weil wir uns von Anfang an auf ein Leben nach dem Sport vorbereiten müssen. Aber innere Zufriedenheit entsteht nicht durch Millionen, sondern dadurch, dass du tust, was dich erfüllt.

Sie arbeiten bereits in Ihrem Ausbildungsberuf. Wird diese EM Ihre letzte?

Das lasse ich bewusst offen. Ich plane momentan bis Olympia 2024 in Paris, aber ich will nicht vorher festlegen, dass danach Schluss ist, sondern auf mein Gefühl hören. Und zunächst will ich nun die Heim-EM genießen.

Haben Sie sich schon ausgemalt, wie der 26. August, der Tag des Damenfinales bei der EM, aussehen soll?

Ich habe eine Vorstellung davon, wie wir in einem vollen Stadion die Menschen begeistern und elektrisieren, und dann hoffentlich den größtmöglichen Erfolg schaffen. Und ich muss sagen: Das fühlt sich so gut an, dass ich es unbedingt erleben will.