Hamburg. Beim Springderby in Klein Flottbek messen sich Marvin Jüngel (21) und Caroline Pedersen (22) im Stechen – mit besserem Ende für Jüngel.
Wohl nie in der mehr als 100 Jahre währenden Derbygeschichte war die Überraschung so groß wie am Sonntag in Klein Flottbek: Mit dem Sachsen Marvin Jüngel (21) und der Dänin Caroline Rehoff Pedersen (22) brillierten zwei junge Reiter, deren Name zuvor nur Eingeweihten vertraut war.
Die beiden bewältigten den angeblich tückischsten Parcours der Welt als Einzige unter 32 Teilnehmenden fehlerlos. Im Stechen war der Sportler aus dem Landkreis Bautzen mit seiner Stute Balou’s Erbin 1,13 Sekunden schneller als die Skandinavierin im Sattel des Wallachs Calvin.
Das Publikum ließ den Gefühlen freien Lauf. Lautstark und leidenschaftlich wurde der Doppelcoup gefeiert. Nach zwischenzeitlicher Stille während der deutschen Nationalhymne für den neuen Champion von Hamburg gab es kein Halten mehr. Marvin Jüngel ließ seiner 14-jährigen Stute freie Zügel.
Jüngel landete im Wassergraben
Im Galopp ging es auf vier Ehrenrunden. Das Blaue Band des Triumphators flatterte im lauen Maiwind. Mit der rechten Hand reckte Jüngel seinen Reithelm in die Höhe. Immer wieder. „So seh’n Sieger aus“, schallte es aus den Lautsprechern. Zur Feier des Tages warfen ihn seine Kumpels in den Wassergraben, wie es Usus ist.
„Deswegen liebe ich das Derby“, kommentierte Springreitlegende Achaz von Buchwaldt am Einritt. „Das unglaubliche Fachpublikum und immer wieder neue Überraschungsmomente üben Reiz und Faszination aus.“ Schon vor dem Stechen hatte der zweifache Derbygewinner orakelt, „dass heute etwas Besonderes in der Luft liegt.“
Der Profi aus Blankenese behielt recht. Als Zeitschnellste unter fünf Teilnehmern mit je vier Fehlerpunkten platzierten sich Benjamin Wulschner (34/Leipzig) mit Bangkok Girl und Sandra Auffarth (36/Ganderkesee) im Sattel von Nupafeed’s La Vista auf den Rängen drei und vier. Das Finale des 92. Deutschen Springderbys war mit 153.000 Euro dotiert, 38.250 davon entfallen auf den Sieger. Der Ruhm ist unbezahlbar.
Auffarth zum vierten Mal in Folge in den Top vier
Auffarth schaffte das Bravourstück, in vier Derbys in Folge Dritte oder Vierte geworden zu sein. Diesmal zögerte ihre Stute oben auf dem drei Meter hohen Wall und scheiterte anschließend an der Planke unten. Der grasbewachsene Hügel wurde auch Vorjahressiegerin Cassandra Orschel (30/Hamburg) zum sportlichen Verhängnis. Dacara patzte am Einsprung auf den Wall. Ihre Reiterin ersparte ihrer Stute den Rest. „Höchsten Respekt“, attestierte Albert Darboven mit Kennerblick.
Derweil in den Stallungen Aufbruchstimmung herrschte, nutzten die Besucher das Ausstellungsareal zum Flanieren. Die Atmosphäre, so das einmütige Testat: exquisit. „Wir haben den Zenit erreicht und sind geschäftlich gut zurechtgekommen“, sagte Derbychef Volker Wulff. 98.000 Zuschauer von Mittwoch bis Sonntag sind eine Bestmarke. Sie liegt 5000 Besucher über der bisherigen.
Eintrittspreise hoch wie nie
Noch nie allerdings waren die Eintrittspreise so hoch wie 2023. Für eine Stehplatzkarte mussten am Derbytag 35 Euro bezahlt werden. „Dadurch konnten die Mehrkosten nicht wettgemacht werden“, stellte Wulff klar. Dem Zuspruch tat diese Entwicklung keinerlei Abbruch. Erlöse aus Eintrittskarten tragen zu 25 bis 30 Prozent zum Budget bei. Mit einem Rekordetat von vier Millionen Euro und einem Gesamtpreisgeld von 1,2 Millionen Euro wurde ein Maßstab für 2024 gesetzt. Dann geht es im Derbypark bereits vom 8. Mai an rund.
„Wir werden weiter an Verbesserungen feilen“, sagte Wulff nach dem Derbytrubel. Einen Nationenpreis werde es in der Hansestadt indes absehbar nicht geben. Zur kommenden Saison wird die wegen geringerer Preisgelder unattraktiver gewordene Serie mit einer neuen „League of Nations“ aufgewertet, ein deutscher Standort ist voraussichtlich nicht dabei.
Ein fester Händedruck mit Kaffeekaufmann Darboven, mit seinem Firmennamen Pate des Ereignisses, bekräftigte die weitere Zusammenarbeit. Nicht nur Bürgermeister Peter Tschentscher und Innensenator Andy Grote als Ehrengäste bemerkten, dass ohne Dominanz der Global Champions Tour – der seit 2008 laufende Vertrag mit der weltweit höchstdotierten Springserie war im Oktober nicht verlängert worden – mehr Derby ging. Zwei Unternehmen aus Hamburg sollen als neue Hauptsponsoren bereitstehen.
Derbychef fordert Konzept für Derbypark
Bei so viel Jubel über Marvin Jüngels Bravourritt und die famose Stimmung im Derbypark fiel der Niedergang des Deutschen Dressurderbys nicht allzu sehr auf. Lediglich neun Pferde wetteiferten um 30.000 Euro Preisgeld.
Trotz des auch in der Dressur enormen Besucherandrangs herrschte Einigkeit: In dieser Form ist mit dem Dressurderby kein Staat zu machen, ein neues Konzept, um ein quantitativ und qualitativ besseres Starterfeld zu garantieren, muss nun erarbeitet werden. Klar ist, dass das Dressurderby in der aktuellen Form mit Pferdewechsel bestehen bleiben soll.
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Apropos Staat. „An den alten Tribünen muss dringend etwas gemacht werden“, bilanzierte Volker Wulff nach der Siegerehrung, „sonst holt uns die Zeit rasch ein.“ Seine Forderung an Reiterverein, Grundstücksbesitzer und Stadt: „Ein finales Konzept muss her.“ Sonst springe Klein Flottbek der Entwicklung hinterher. In den kommenden Wochen findet ein offizieller Termin mit dem Gebäudemanagement Hamburg statt.
Jüngels Mutter hat heute Geburtstag
Die beiden aktuellen Derby-Triumphatoren hatten am Sonntagabend andere Gedanken im Kopf. „Ein Traum ging in Erfüllung“, frohlockte die zweitplatzierte Caroline Rehoff Pedersen. Sie trainiert zeitweise bei ihrem Landsmann Lars Bak Andersen in Elmshorn.
Derbysieger Marvin Jüngel, nach Alwin Schockemöhle 1969 im Alter von 19 Jahren zweitjüngster Gewinner aller Derbyzeiten, hatte seiner Mutter ein besonderes Geschenk gemacht. Sie war aus Sachsen angereist. Den Tag vor ihrem Geburtstag am heutigen Montag wird sie nicht vergessen. Sie wird garantiert nicht die Einzige sein.