Vor 14 Jahren kam die Fuchsstute La Vista in Bergedorf bei Bremen zur Welt. Wie Familie Auffarth sie zum Spitzenpferd formte.

Als das braune Fohlen an einem zauberhaften Maitag 2009 in einem Stall in Bergedorf bei Bremen zur Welt kam, waren die Züchter Bärbel und Karl-Heinz Auffarth zur Stelle. Selbstverständlich. Und als die kleine Fuchsstute mit wackeligen Beinen neugierig das Umfeld erkundete, musste ihre Mutter Fantasie in der Nähe bleiben. Natürlich.

Bald war klar: La Vista hat Charakter. Sie springt für ihr Leben gern, ist hochmotiviert, verfügt indes über einen gepflegten Dickkopf. Diese Kombination bewegt zu großen Sprüngen. Wenn man geschickt plant, mit Fingerspitzengefühl trainiert, den ureigenen Willen des Pferdes respektiert, mit Maß zu Topleistungen animiert.

So wie an diesem Sonntag im Mai 2023, fast auf den Tag 14 Jahre später. Nupafeed’s La Vista hat sich längst einen Namen gemacht, ist nicht nur wegen ihres Stockmaßes von 1,73 Metern eine Große geworden. Bei den vergangenen drei Derbys erreichte sie jeweils das Stechen. 2022 stand sie als Vierte, die beiden Male zuvor jeweils als Dritte bei der Siegerehrung vor der Haupttribüne. Es gab Applaus satt für die lebendige, kernige, ein bisschen aufgeregte Hannoveraner Fuchsstute.

Im Derby am Sonntag lockt der große Coup

Im 92. Deutschen Springderby könnte nun der ganz große Coup gelingen. „Sie springt für ihr Leben gern“, sagt Sandra Auffahrth bei einem Becher Pfefferminztee inmitten des Flottbeker Derbyparks, „und sie kann eine Menge schaffen.“ In Hamburg fühle sie sich wie zu Hause, genieße die pulsierende Atmosphäre, erfreue sich des Pferdelebens.

Das Gespann aus Bergedorf, einem Dorf am Rande Ganderkesees westlich von Bremen, zählt beim Wettstreit um das Blaue Band der Allerbesten zu den Mitfavoriten. Da Reiterin wie Pferd über eine zutiefst norddeutsche Mentalität verfügen, bleiben sie auf dem Boden. Sturmfest und erdverwachsen. Selbstverständlich will Sandra Auffarth mit Nupafeed’s La Vista am Sonntag hoch hinaus. Dem Gespann wäre es zu gönnen.

Auch weil eine Geschichte dahintersteht, die den Charme des Derbys aus-macht. Wenn Außenseitern Husarenritte glücken, wenn kleine Wunder wahr wer-den, wenn Jubelschreie zuvor eher unbekannter Sportler durchs Rund gellen, ist das Publikum in der Arena lustvoll aus dem Häuschen. Ohne Geld geht es nicht, aber ohne das ganz große durchaus.

Fleiß und Beharrlichkeit zählen

So ist der Werdegang des Familienbetriebs Auffarth tief im Niedersächsischen ein gelungenes Beispiel, wie man mit erheblichem Fleiß, Beharrlichkeit und einer Vision auf eigener Scholle Bemerkenswertes vollbringen kann. Nach wie vor steht Nupafeed’s La Vista auf den Koppeln und Stallungen des Bauernhofs in Bergedorf.

Dort, im Landkreis Oldenburg, findet das Training statt. Geändert hat sich lediglich der Namenszusatz: Nupafeed ist ein Futterergänzungsmittel für Tiere. Zum Beispiel Magnesium oder Grünlippenmuschelpuder. Sponsoren gehören im Springreitsport dazu.

Die Besitzerin ist seit Jahren vertraut: Dorothea von Ehrlich entstammt einer bekannten Unternehmerfamilie am Starnberger See in Bayern. Für Züchter ist es alltägliches Geschäft, selbst gezogene Pferde zu verkaufen. Ein Glück, dass La Vista ihr Zuhause behielt.

Sandra Auffarth ist gelernte Pferdewirtin

Dass die talentierte Fuchsstute jetzt im Deutschen Derby nach Eichenkranz und Blauem Band strebt, war im Mai 2009 natürlich nicht zu ahnen. Ebenso wenig war die Karriere von Sandra Auffarth zur couragierten Olympiasiegerin und einer der erfolgreichsten Reiterinnen hierzulande vorauszusehen.

Nach ihrem Abitur war die junge, ehrgeizige Frau 2006 von Ganderkesee und dem eingemeindeten Bergedorf nach Warendorf in Westfalen gezogen. Dort wurde sie vom Deutschen Olympiade-Komitee gefördert. Ihren Abschluss als Pferdewirtin krönte sie als Jahrgangsbeste. Anschließend absolvierte sie bei der Deutschen Reiterlichen Vereinigung eine Ausbildung zur Sport- und Fitnesskauffrau.

Parallel nahm in Bergedorf La Vistas Entwicklung ihren Lauf – im wahrsten Sinn des Wortes. Auf 40 Hektar bietet der landwirtschaftliche Betrieb Freiraum. Karl-Heinz Auffarths Vater betrieb dort einen angesehenen Bauernhof. Mittlerweile wird bei den Auffarths kein Ackerbau mehr betrieben. Die Futtergewinnung für den Ausbildungs-, Pensions- und Verkaufsstall allerdings erfolgt auf eigenem Grund und Boden. Aktuell stehen den Vierbeinern 70 Boxen zur Verfügung.

Jedes Fohlen ist ein Hoffnungsschimmer

Auf den Gedanken, nach und nach von Landwirtschaft auf Pferdezucht umzusatteln, kam die Familie Auffarth in den 1970er-Jahren. Nicht nur im sechs Kilometer vom Zentrum Ganderkesees gelegenen 600-Einwohner-Ort Bergedorf überlebten wenige Landwirte der Konkurrenz aus aller Herren Länder.

Mit Bauernhöfen allein war kaum noch Staat und Geld zu machen. Parallel starben immer mehr Lebensmittelläden und Dorfkneipen. Im Hamburger Umland ist das nicht anders als im Landkreis Oldenburg.

Jede Fohlengeburt ist traditionell ein aktueller Hoffnungsschimmer. Sollte ein großer Wurf dabei sein? La Vista machte früh Hoffnung. Ein halbes Jahr blieb die kleine Stute an der Seite ihrer Mutter Fantasie, dann wechselte sie in einen Laufstall nebenan. In der Gruppe ging es über Wiesen und Felder.

La Vistas Mutter ist Fantasie

La Vistas Freude am Springen, ihr Elan und ihre unbändige Freude an allen Gangarten fielen nicht nur dem Züchterehepaar Auffarth ins Auge. 1983 hatte die Bremerin Bärbel den neun Jahre älteren Bergedorfer Karl-Heinz geheiratet. Auch die Leidenschaft für Pferde einte das Paar.

Die Rechnung mit La Vista schien auf-zugehen. Denn hinter ihrer Geburt im Mai 2009 stand eine Idee. Um die für Außenstehende komplizierte Arithmetik der Zucht zu skizzieren: Nupafeed’s La Vistas Mutter Fantasie ist eine Tochter des Hannoveraner Deckhengstes For Pleasure. Der zweifache Olympiasieger verdiente in seiner Springkarriere mehr als 1,8 Millionen Euro Preisgeld und schien sein Talent zuverlässig zu vererben. Mit dem Hengst Lordanos wurde ein passender Partner ausgewählt: für und mit Fantasie.

La Vista machte ihren Eltern alle Ehre. Als Fünfjährige wurde sie an die bayerische Unternehmerfamilie von Ehrlich verkauft. Mit der Zusicherung, dass die Fuchsstute an ihrem Geburtsort verbleiben solle – und von Sandra, der Tochter des Züchterehepaars, geritten wird.

Geschick und Augenmaß sind Erfolgsfaktoren

Das Kalkül dieser Absprache: zwei besondere Begabungen, die der Reiterin und die des Springreitpferdes, könnten gemeinsam Großes vollbringen. Dass es letztlich so kam, ist alles andere als ein Glücksfall. Geschick, Augenmaß und Einsatzfreude sind die Faktoren des Erfolgs.

„Wie bei allen Pferden versuche ich auch bei Nupafeed’s La Vista das Beste herauszuholen“, bringt Sandra Auffarth ihre Philosophie auf den Punkt. Pferde seien wie Menschen: „Jedes Tier hat Talente wie Schwachpunkte.“ Umso wichtiger sei es ihr, Qualitäten und Vorlieben einschätzen zu können. Begeistert beschreibt die 36-Jährige das „atemberaubende Gefühl“, wenn ein Pferd der Reiterin hundertprozentig vertraut und das Gefühl vermittelt, „sogar über Häuser springen zu können“.

Das muss man in der Tat wollen, um bei Klassikern wie dem Deutschen Derby gut abzuschneiden. Im Reiterlager wird der Niedersächsin ein hervorragendes Händchen für die Ausbildung junger Pferde bis hin zur Championatsreife attestiert.

2011 kehrte Sandra Auffarth nach Ganderkesee zurück

Zwischen Sandra Auffarth und Nupafeed’s La Vista harmoniert es prima. Zudem die Amazone ebenso ihren Weg ging. Im Januar 2011, als 25-Jährige, kehrte sie auf den elterlichen Hof nach Ganderkesee-Bergedorf zurück. 2014 übernahm sie den Zucht- und Ausbildungsbetrieb in wirtschaftlicher und organisatorischer Verantwortung.

Immer mehr sportliche Erfolge machten Mut. Frau Auffarths Siegesserie ist eine Geschichte für sich. Ihre größten Erfolge verbuchte sie in der Vielseitigkeit, also über Feld, Stamm, Stock und Stein. Dreimal nahm sie an Olympischen Spielen teil, holte mit dem Team 2012 in London die Goldmedaille und im Einzel Bronze.

Bei den Weltreiterspielen im August 2014 gewann sie im Sattel des Wallachs Opgun Louvo die Einzel-Goldmedaille und Teamgold. Es gab einen eigenen Fanclub. Und immer wieder Beifall. In der Vielseitigkeitsreiterei und beim Springen gewann Sandra Auffarth einen Meistertitel nach dem anderen.

Mit neun ritt La Vista erstmals im Derby

Auch ihrem vertrauten Schützling Nupafeed’s La Vista machte sie gekonnt Beine. Mit sechs und sieben Jahren schaffte die Stute erste Siege, auch in schweren Prüfungen, nahm an Großen Preisen teil, war in den Niederlanden und in Belgien erfolgreich auf dem Posten. Und mit neun Jahren ritt sie erstmals im Deutschen Derby in Klein Flottbek.

Nachdem Frau Auffarth ihre Stute fehlerlos auch über so tückische Hindernisse wie den drei Meter hohen Wall, Pulvermanns Grab und die Irischen Wälle dirigierte, wurden beide im Stechen Dritte. Eine Meisterleistung!

„Unsere Familie und die Verwurzelung in der norddeutschen Heimat machen uns stark“, sagt sie. Klar, dass Bärbel und Karl-Heinz auch bei Olympia präsent waren. Die Einsatzfreude wurde Anfang dieses Monats mal wieder verdeutlicht. Derweil der 74 Jahre alte Vater daheim in Bergedorf Stellung hielt, machte sich ihre Mutter auf den Weg nach Kentucky in den USA – an Bord einer Cargo-Maschine.

Eltern sind fast immer dabei

In einem Container auf Rollen flog ein Auffarth-Pferd von Amsterdam nach Chicago. Die Pferdewirtmeisterin Bärbel Auffarth sprach dem Vierbeiner Mut zu und sorgte für frisches Futter. Von Chicago führte der Weg weiter: acht Stunden im Lkw. Einsatz mit Herzblut und Leidenschaft.

Auch während des Flottbeker Pferdefestivals sind die Eltern im Derbypark vor Ort. Ehrensache. Am Mittwoch waren sie Augenzeugen, als Sandra ihre Nupafeed’s La Vista in der ersten Qualifikation fehlerfrei als Siebte über die Runde führte. In der zweiten Qualifikation am Freitag belegte das Gespann erneut fehlerfrei Platz acht.

„Die Stute ist sehr selbstbewusst und willensstark“, weiß Sandra Auffarth aus Erfahrung: „Das Derby ist ihr Ding. Motto: Je höher, desto besser.“ Unabhängig vom Resultat im 92. Deutschen Derby an diesem Sonntag: Die 14-jährige Fuchsstute kann sich auf die neue Woche freuen. „Dann ist erstmal Urlaub“, verspricht ihre Reiterin. Ab auf die Wiese. 14 Jahre sind ein weiter Weg.