Der lang angekündigte Boxkampf Nikolai Valuev gegen Ruslan Chagaev wurde gestern Abend ganz unvermittelt abgesagt. Der offizielle Grund: Chagaev trage eine ansteckende Hepatitis-B-Erkrankung in sich. Aber ist das tatsächlich die wahre Erklärung?

Helsinki. Die Sonne, die Finnlands Hauptstadt Helsinki am Pfingstsonnabend Temperaturen bis zu 30 Grad bescheren sollte, lockte Einheimische und Touristen zu Tausenden auf die Straßen und Plätze rund um den Hafen. Doch nicht alle hatten die Möglichkeit, das sommerliche Wetter zu genießen. Im SAS-Radisson-Hotel hinter dem Hauptbahnhof trafen sich um 12 Uhr Vertreter der deutschen Profiboxställe Universum (Hamburg) und Sauerland (Berlin) mit Gilberto Mendoza Jr., dem Präsidenten des Weltverbandes WBA, und dem finnischen Verbandsboss Pertti Augustin, um erste Versuche zu unternehmen, einen der größten Skandale der jüngeren Boxgeschichte aufzuklären. Ergebnisse wurden für den Nachmittag erwartet.

Am Freitagabend um 22.19 Uhr Ortszeit hatte der finnische Verband auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, dass die für den Pfingstsonnabend geplante Schwergewichts-WM zwischen dem Russen Nikolai Valuev (35, Sauerland) und dem Usbeken Ruslan Chagaev (30, Usbekistan) abgesagt werden muss. Offizielle Begründung: Chagaev habe die obligatorischen medizinischen Tests nicht bestanden, da er eine schwach ansteckende Hepatitis-B-Infektion in sich trage. Das gesundheitliche Risiko für Valuev sei zu hoch, um den Kampf sanktionieren zu können.

Tatsächlich leidet Chagaev seit fünf Jahren an Hepatitis B. Die potentielle Ansteckungsgefahr wird in der sogenannten HBV-DNA-Analyse in fünf Abstufungen unterteilt. In Tests in Deutschland, die vor jedem seiner Kämpfe und zusätzlich zuletzt am 8. Mai im Hamburger Klinikum St. Georg durchgeführt worden waren, war er laut Universum-Arzt Michael Ehnert (Hamburg) und dem renommierten Ringarzt Professor Walter Wagner (Bayreuth) stets in der Kategorie null - „nicht infektiös“ - eingeordnet worden. Ein von Sauerland forcierter und am Donnerstag erfolgter Nachtest der Uniklinik Helsinki ergab dann jedoch am Freitagmittag, dass Chagaev in die Klasse 1 – gering infektiös, Konzentration der Viren im Blut bei unter 12 Internationalen Einheiten pro Milliliter – einzuordnen sei. Daraufhin entschied der finnische Verband laut Augustin, „dass wegen des geringen, aber vorhandenen Risikos einer Ansteckung der Kampf von uns nicht gestattet werden kann“.

Wagner konnte zwar die Argumentation des finnischen Verbandes nachvollziehen, gab jedoch im Gespräch mit dem Abendblatt zu: „In Deutschland oder auch in Österreich, unter dessen Lizenz Sauerland veranstaltet, hätte der Kampf stattgefunden.“ Das Problem sei, dass die Weltverbände keine einheitliche Regelung festgelegt hätten, sondern die Entscheidung in die Hände der nationalen Verbände legten (lesen Sie dazu auch das Interview mit Wagner). Fakt ist, dass die WBA und der Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) Chagaevs bisherige Kämpfe allesamt sanktioniert hatten.

Interessant war, dass Wagner darauf hinwies, dass er selbst schon vor Wochen auf das mögliche Problem der unterschiedlichen Regelauslegung hingewiesen habe. „Ich habe dem finnischen Verband angeboten, dass ich als Ringarzt die Austragung des Kampfes sichern würde. Aber das wurde von Pertti Augustin abgelehnt, nachdem die Tests in Deutschland keine Ansteckungsgefahr ausgewiesen hatten“, sagte er.

Genau dies war auch der Punkt, über den in Helsinki alle rätselten: Warum hatte man bis zum letzten Tag warten müssen, um ein Problem eskalieren zu lassen, das schon seit Jahren bekannt ist? Schon während der gesamten Kampfwoche hatte der Sauerland-Stall den Eindruck erweckt, das Duell stehe auf der Kippe. Am Dienstag hatte Wilfried Sauerland im Abendblatt-Gespräch angemerkt: „Mal sehen, ob das Duell überhaupt stattfindet.“ Was wie eine Anspielung auf Chagaevs Krankenakte wirkte – der Usbeke hatte das geplante Rematch mit Valuev im April 2008 wegen einer Grippe und im Juli 2008 wegen eines Achillessehnenrisses absagen müssen -, bekam damit im Nachhinein einen sehr faden Beigeschmack.

Neutrale Beobachter konnten jedenfalls feststellen, dass während des Freitagabends alle Mitarbeiter des Sauerland-Stalls keine großen Anstrengungen unternahmen, den Kampf mit allen Mitteln zu retten. Das verwunderte. Immerhin wollte Valuev im „wichtigsten Kampf meiner Kar-riere“ die Punktniederlage vom April 2007 ausmerzen, durch die er seinen Titel gegen Chagaev verloren hatte. Durch die doppelte Absage des Rematches war Chagaev zum „Weltmeister im Wartestand“ erklärt worden. Valuev hatte sich durch einen Sieg über John Ruiz im August 2008 den Interims-Titel wiedergeholt und war dann von der WBA wieder als Weltmeister akzeptiert worden. Durch seinen Sieg über Carl Davis Drummond im Februar in Rostock wurde Chagaev nach seinem Comeback auch als Weltmeister geführt.

Welche Konsequenzen die Kampfabsage auch immer haben wird: Der Imageschaden für das Boxen ist immens. Dem durchschnittlichen Boxfan ist eine solch kuriose Kampfabsage nicht zu vermitteln. Im Kampf um neue Fernsehverträge und lukrative Kampfabende ist ein solcher Vorgang Wasser auf die Mühlen derer, die das Boxen schon immer als Ansammlung korrupter Funktionäre sahen. Sauerland musste seinem TV-Partner ARD einen fest eingeplanten Quotenbringer streichen und zudem auch das für die Organisation und Promotion des Duells aufgewendete Geld abschreiben. Universum muss zum dritten Mal eine Absage Chagaevs erklären. Noch härter traf es natürlich beide Sportler, die sich monatelang auf das Duell vorbereitet hatten und sich beide noch beim offiziellen Wiegen am Freitagmittag kampffähig und topfit präsentiert hatten. Valuev hatte von der Absage gegen 18 Uhr erfahren, Chagaev bekam die Hiobsbotschaft erst um 22.30 Uhr von Dietmar Poszwa, Mitglied der Universum-Geschäftsleitung, übermittelt. Er war am Boden zerstört.

Beim Weltverband WBA zeigte man sich von der plötzlichen Absage mehr als verwundert. Präsident Mendoza erklärte auf der Homepage des Verbands, man sei im Vorfeld nicht ausreichend informiert worden. „Wir sind sehr unglücklich darüber, wie das Ganze gelaufen ist. Das ist ein großer Schaden für den Boxsport in Europa“, sagte Mendoza, der über die weiteren Schritte in den kommenden Tagen mit den Mitgliedern der Verbandsspitze diskutieren wird. Die von Sauerlands Geschäftsführer Chris Meyer geäußerte Vermutung, Chagaev werde wegen der dritten gesundheitsbedingten Absage der Titel entzogen, wollte Mendoza nicht kommentieren. Allerdings zeigte er sich verwundert darüber, dass Sauerland Chagaev beharrlich als „Weltmeister im Wartestand“ bezeichne. „Chagaev ist Weltmeister, und Valuev der Interims-Weltmeister. Wir haben Sauerland lediglich erlaubt, den Zusatz Interim zu streichen, um die Kämpfe als WM-Kämpfe besser vermarkten zu können.“ Diesen Fakt untermauert auch der Börsensplit, der 55:45 zugunsten Chagaevs ausgefallen wäre.

Der Sauerland-Stall bedauerte die Absage des Kampfes, zeigte aber Verständnis für die Entscheidung des finnischen Verbands. Geschäftsführer Meyer wies jegliche Gerüchte, man habe den Kampf nicht gewollt und spekuliere auf einen Titelentzug für Chagaev, zurück: „So abgezockt sind wir nicht, dass wir so etwas planen würden“, sagte er. Der Universum-Stall wollte sich, ebenso wie beide Kämpfer, zunächst nicht zu den Gerüchten äußern. So blieb es beim offiziellen Statement von Sprecher Georg Nolte: „Chagaev ist kampffähig, das haben die WBA und der deutsche Verband mehrfach bestätigt. Wir können die Entscheidung nicht verstehen und behalten uns alle Schritte vor.“

Dass sich am Sonnabend auch der exzentrische US-Promoter Don King vor Ort in Helsinki in die Verhandlungen einschaltete, machte die Lage noch unübersichtlicher. King ist mit 50 Prozent an Valuev beteiligt und forderte die WBA auf, Chagaev sofort den Titel zu entziehen. Was King damit bezwecken will, ist klar. Valuev soll als wahrer WBA-Weltmeister die Chance bekommen, gegen einen der Klitschko-Brüder zu kämpfen, die die Titel der anderen drei Weltverbände unter sich aufteilen. Dieser große Zahltag würde über alle finanziellen und Imageverluste hinübertrösten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?