Bad Oldesloe. Warum musste Hermine sterben? Diese Frage stellt sich eine tierliebe Familie bei Bad Oldesloe zwischen Trauer und Wut.
Für eine Familie mit Kindern strahlt die Adventszeit einen besonderen Zauber aus. Kerzen und gefüllte Kalender, Lebkuchen und leuchtende Lichterketten sind Vorboten für den Heiligabend, der Geschenke und Leckereien verheißt. In der Familie von Lisa und Abdo Glantz aus der Siedlung Glinde bei Bad Oldesloe ist das nicht anders. Doch in diesem Jahr ist die Vorfreude getrübt. Zu tief sitzt noch die Trauer nach einem schmerzhaften Abschied, den niemand so recht verwunden hat. Warum musste Hermine sterben? Warum durfte sie nicht geschützt werden? Und warum fühlt es sich für die Familie jetzt so an, als sei das blinde Rehkitz von gnadenlosen Behörden in den Tod getrieben worden?
Rückblick. Auf dem Heimweg von einem Ausflug nach Hartenholm im Kreis Segeberg entdeckt die Familie am 13. September auf einer Landstraße ein offenbar angefahrenes Rehkitz. „Es hatte eine schlimme Kopfverletzung und eine offene Wunde am Bein, war vollkommen hilflos“, berichtet Lisa Glantz. Es in diesem Zustand zurückzulassen sei keine Option gewesen. „Das haben wir einfach nicht übers Herz gebracht“, sagt die 33-Jährige.
Stormarn: Blindes Rehkitz in den Tod getrieben – Behörden gnadenlos
Also wird das blutende Kitz aufgeladen und zu dem Bauernhof gebracht, den die Familie mit vier Kindern seit vielen Jahren bewohnt und auf dem sie eine Hundepension betreibt. „Wir haben die Wunden versorgt, die völlig vereiterten Augen gesäubert und ein für Tiere geeignetes Mittel gegen Schmerzen verabreicht“, erzählt Lisa. Noch am selben Abend sei sie zudem nach Bargteheide gefahren, um bei Edeka zehn Liter Ziegenmilch zu ordern. Alles in bester Absicht und ohne nach den Kosten zu fragen.
Freunde und Kunden der Hundepension bezweifeln indes, dass die Familie das Kitz durchbringen kann. Zu mitgenommen sieht es aus und erscheint zu kraftlos. „Ihr werdet es nicht retten können, hörten wir immer wieder. Das hat unseren Ehrgeiz aber erst recht geweckt“, sagt Lisa, die im landwirtschaftlichen Betrieb ihres Vaters aufgewachsen ist und später lange als Pflegefachkraft in einer Senioreneinrichtung der Kreisstadt gearbeitet hat.
Immer viele Tiere auf dem Bauernhof gehalten
„Wir hatten auf unserem Hof immer viele Tiere: Schweine, Pferde, Hunde“, erinnert sich Lisa. In ihrer ersten Elternzeit nach Übernahme des Hofs baut sie dann selbst die Pension als Tiertagesstätte und für Urlaubsbetreuung auf. Anfangs für Meerschweine, später auch für Kaninchen, schließlich für Hunde. Dafür wird mehr als ein Hektar Grünfläche eingezäunt. Als Auslauf für die Vierbeiner, auf dem sie sich nach Herzenslust austoben können.
Irgendwann haben Lisa und Abdo dann noch die einjährige Stute Donna aus misslichen Verhältnissen zu sich geholt. Sie sollte sich bald als engagierte Ersatzmutter für das kleine Reh erweisen. Wenn nicht gerade die vier Glantz-Kinder oder deren Eltern den Job der Nanny übernehmen.
Blindes Rehkitz kommt allen Unkenrufen zum Trotz wieder auf die Beine
Diese Fürsorge zahlt sich allen Unkenrufen zum Trotz schnell aus. Das Kitz, von Sohn Lian (9), einem großen Harry-Potter-Fan, auf den Namen Hermine getauft, kommt tatsächlich wieder auf die Beine. „Es wurde von Tag zu Tag kräftiger, hat gemeinsam mit Donna gefressen und wagte sich immer öfter aus dem Stall“, berichtet Lisa Glantz.
Doch schnell wird klar, dass Hermine offenbar ein gravierendes Problem mit den Augen hat. Das rechte ist permanent verschleiert. Das linke, wahrscheinlich durch den Unfall ebenfalls schwer geschädigt, kann den Sehverlust nicht kompensieren. So gerät das Kitz immer wieder in Kollisionen und kann sich nur schwer orientieren. Dennoch entwickelt sich das Jungtier prächtig.
Blindes Rehkitz: Inspektion des Veterinäramts ändert plötzlich alles
Bis zu jenem Tag, als der Hundehof Glantz Besuch vom Kreisveterinäramt und dem Ordnungsamts Bad Oldesloe bekommt. Eigentlich gilt die Inspektion am 13. November nur der Hundepension. Doch auf dem Rundgang entdecken die beiden schließlich auch das Rehkitz. Eine Begegnung mit fatalen Folgen.
Kurz darauf erhält Lisa Glantz einen Anruf vom zuständigen Jagdpächter. Der fordert sie ultimativ auf, das Rehkitz umgehend in die freie Wildbahn zu entlassen. „Ich war völlig geschockt“, sagt sie: „Offenbar hat niemanden interessiert, dass sich das Kitz nicht allein versorgen kann und weitgehend orientierungslos ist“, entrüstet sie sich.
Blindes Rehkitz: Polizei leitet Anhörung zum Tatbestand der Jagdwilderei ein
Eine Woche später erhält Lisa Glantz sogar Post von der Polizei. Anhörung zum Tatbestand der Jagdwilderei steht dort geschrieben. „Das hat unsere Fassungslosigkeit nur noch verstärkt. Wir sind doch nicht in den Wald gegangen, um dort Wild zu stehlen. Es war zu keinem Zeitpunkt unsere Absicht, das junge Reh zu behalten. Wir haben lediglich einem hilflosen, verletzten Tier helfen wollen“, schildert sie ihre Emotionen.
Das Kitz einfach sich selbst zu überlassen, widerstrebt dem tierliebenden Paar und seinen Kindern zutiefst. Deshalb hatte Lisa Kontakt zu den fünf bekannten Wildparks in der Region aufgenommen, von Eekholt bis zu den Schwarzen Bergen in der niedersächsischen Gemeinde Rosengarten. Sogar Hagenbeck in Hamburg wurde kontaktiert. Doch ohne Erfolg.
Blindes Rehkitz stirbt keine 500 Meter vom Hof der Familie entfernt
Am 19. November entschließen sie sich weisungsgemäß und schweren Herzens, Hermines Gatter geöffnet zu lassen. Zwei Tage macht das Kitz keine Anstalten, den Hof zu verlassen. Doch am Morgen des 22. November ist es dann verschwunden. Noch am selben Tag findet die Familie bei einem Spaziergang das Jungtier leblos auf einem Feld, keine 500 Meter von ihrem Hof entfernt.
„Ich weiß nicht, was in diesem Moment größer war, unsere Trauer oder unsere Wut“, sagt Lisa Glantz. Das Kitz zeigt tiefe Fleischwunden an den Hinterläufen, typisch für Angriffe von Füchsen, Wölfen und Hunden. „Die Forderung seitens der Behörden, es hinaus in die freie Wildbahn zu entlassen, war sein Todesurteil. Diese Art seelenloser Paragrafenreiterei war die furchtbarste aller Lösungen und hatte mit Tierschutz rein gar nichts zu tun“, klagt sie an.
Gnadenlose Behörden berufen sich auf das Bundesjagdgesetz
Das sehen die involvierten Behörden anders. „Wild aus der Natur zu entnehmen, fällt in die Zuständigkeit der jeweiligen Jagdpächter. Ihnen obliegt die letzte Entscheidung, wie mit verletzten Tieren zu verfahren ist“, sagt etwa Frank Brinker, Chef des Kreisveterinäramts Stormarn.
Noch schärfer formuliert es Kreisjägermeister Uwe Danger, zugleich Berater der Unteren Jagdbehörde. „Wildtiere sind Wildtiere und unterliegen deshalb einem besonderen Schutz. Der Umgang mit ihnen ist einzig und allein ausgebildeten Jägern vorbehalten. Die Regelungen sind eindeutig, da gibt es keinen Interpretationsspielraum“, so Danger.
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Wer auf ein verletztes Wildtier treffe, sollte es unangetastet lassen und umgehend den Notruf 110 wählen, nicht nur bei einem Wildunfall auf der Straße. „Bei allen Rettungsleitstellen sind ständig aktualisierte Adresslisten der jeweils zuständigen Jagdpächter hinterlegt. Um alles weitere kümmern sich dann kompetente und speziell geschulte Jagdschutzberechtigte“, erklärt Danger.
Noch immer ist das tote Kitz täglich Thema in der Familie
Noch immer ist das Rehkitz indes Thema in der Familie Glantz. „Jeden Tag fragt eines der Kinder mit Tränen in den Augen, warum es nicht mehr da ist. Vor allem unsere dreijährige Tochter Malea-Hanna, die eine besonders enge Beziehung zu Hermine aufgebaut hatte“, sagt Lisa. Und selbst die Stute Donna habe deutliche Anzeichen von Unruhe gezeigt, viel gewiehert und gescharrt.
„Jenseits kalter Paragrafen gibt es doch einen natürlichen Reflex bei empathischen Menschen, auch wehr- und schutzlosen Wildtieren zu helfen, soweit das irgendwie möglich ist“, beharrt Lisa Glantz. Dieses Mitgefühl nicht zeigen zu dürfen, sei schwer zu vermitteln. Erst recht, wenn man als Mutter selbst Verantwortung für Kinder trage. Die den Respekt vor Tieren doch nicht nur lernen, sondern leben sollen.