Ahrensburg. Seit 1947 war Konditorei Gerads in Ahrensburg eine Institution. Nun gibt Betreiberfamilie auf – und blickt auf 77 bewegte Jahre zurück.
Kronleuchter, gold-gelbe Tapete mit Blumenornamenten, beigefarben bezogene Bugholzstühle, Teppichboden, Holzvertäfelung: Das Café Gerads ist einer dieser Orte, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Seit 77 Jahren verwöhnt Familie Gerads ihre Kunden in Ahrensburg mit Nusstorte, Schwarzwälder Kirsch, Käsekuchen und anderen süßen Verführungen.
Das Geschäft an der Hamburger Straße, direkt im Stadtzentrum, ist eine Institution. Generationen von Ahrensburgern trafen sich hier zu Kaffee und Kuchen, gaben bei Gerads ihre Hochzeitstorte in Auftrag oder holten an Silvester ihre Berliner ab. Und so ist es auch ein Stück Stadtgeschichte, das am 30. Oktober zu Ende geht. An diesem Tag wird Stephan Gerads, der den Familienbetrieb in dritter Generation führt, das Café zum letzten Mal öffnen.
Konditorei Gerads in Ahrensburg: Traditionscafé gibt nach 77 Jahren auf
„Mir bleibt keine andere Wahl, als schweren Herzens einen Schlussstrich zu ziehen“, sagt der Konditormeister. Das Kauf- und Konsumverhalten der Kunden habe sich verändert. „Wir haben viele treue Stammkunden, die seit Jahren zu uns kommen“, sagt der 56-Jährige. Doch davon könne das Familienunternehmen auf die Dauer nicht leben.
Das Café Gerads war in den vergangenen Jahren so etwas wie das gallische Dorf unter den Bäckereien und Konditoreien. Standhaft trotzte das Geschäft dem Siegeszug der großen Ketten, von Self-Service und Coffee to go. Handwerkliche Qualität und der trotz Modernisierungen gediegene, noch immer leicht plüschige Charme nach Wiener Art – mit Tischdecken und Bedienung, mit Sahne und Buttercreme – waren jahrzehntelang das Erfolgsgeheimnis.
Die Geschichte der Konditorei Gerads beginnt 1947 am Lindenhof
Die Geschichte des Unternehmens beginnt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Wuppertaler Konditormeister Joseph Gerads (1914–1986) ist ausgebombt worden und entscheidet sich für einen Neuanfang in der Heimat seiner Frau Elsa, die ursprünglich aus Pölitz bei Bad Oldesloe stammt.
Am 17. Januar 1947 eröffnet der junge Unternehmer in Ahrensburg sein erstes eigenes Geschäft, zunächst im Tanzlokal Lindenhof an der Bahnhofstraße, das es schon lang nicht mehr gibt. Heute befindet sich an der Stelle ein Wohn- und Geschäftshaus, in dem unter anderem Kik und Tedi Filialen betreiben.
1951 zieht die Kondotorei Gerads an ihren heutigen Standort an der Hamburger Straße
75 Reichsmark betrug die erste Tageseinnahme. So hat es Joseph Gerads seinerzeit im Geschäftsbuch vermerkt. Nach einer Woche sind bereits Gesamteinnahmen von 820 Reichsmark aufgelistet. Ein aus dem Stand achtbares Ergebnis. Gerads will expandieren. „Mein Vater wollte ein eigenes Café“, sagt Klaus-Peter Gerads, Sohn des Unternehmensgründers. Im Lindenhof war aber nur Platz für einen Verkauf.
„Mein Vater hat dann 1951 das Grundstück an der Hamburger Straße gekauft und dort gebaut“, erinnert sich der heute 79-Jährige, der noch immer fast täglich im Geschäft aushilft. „Erst gab es nur das Erdgeschoss. Später hat mein Vater dann aufgestockt. Als ich 1976 mit meiner Frau Helga das Familienunternehmen übernahm, haben wir eine neue Backstube angebaut und später noch das Gartencafé eröffnet“, sagt Gerads.
Seit 2003 führt Stephan Gerads den Familienbetrieb in dritter Generation
Im Kern aber sei das Gebäude bis heute dasselbe. Das Umfeld hingegen hat sich über die Jahre stark verändert. „Damals gab es um uns herum nichts außer eine Apotheke und das Strumpf- und Wäschegeschäft von Nessler.“ Heute befindet sich an der Stelle das Kaufhaus Nessler, und die Konditorei ist als Teil einer Einkaufsstraße von weiteren Geschäften umgeben.
Seit 2003 führt Klaus-Peters Sohn Stephan das Unternehmen in dritter Generation. Für den 56-Jährigen war immer klar, dass er den Familienbetrieb weiterführen würde. „Die Kreativität in Verbindung mit dem Handwerklichen macht den Beruf für mich aus“, sagt der Konditormeister. Wenn er den Kunden dann nach stundenlanger, filigraner Arbeit zum ersten Mal ihre Geburtstags- oder Hochzeitstorte präsentieren kann, sei das immer ein ganz besonderer Moment. „Ich freue mich, wenn die Kunden sich freuen“, sagt Stephan Gerads.
Einer der ausgefallensten Wünsche: eine Hochzeitstorte im Gothik-Look
In all den Jahren hatte es der Ahrensburger immer wieder auch mit ausgefallenen Kundenwünschen zu tun. Eine Torte in Form des roten Rennwagens „Lightning McQueen“ aus dem Animationsfilm „Cars“ und ein Kuchen im Hello-Kitty-Design gehörten noch zu den gewöhnlichen Kreationen.
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„Einmal kam ein Paar zu mir und wollte eine Hochzeitstorte im Gothik-Look. Mit Totenschädeln und allem Drum und Dran“, erinnert sich Gerads. „Wem‘s gefällt, warum nicht?“, sagt er und schmunzelt. „Wir waren immer zu jeder Schandtat bereit.“ Während die Torten früher lange gemeinsam mit den Kunden geplant worden seien, kämen die Wünsche heute meist mit Fotos auf dem Handy. „Es heißt dann: So eine Torte möchte ich. Und wir bauen das dann nach.“
Santiano feierten Erscheinen ihres Albums mit Torte aus dem Hause Gerads
Ebenso vielfältig wie die Tortenkreationen waren die Anlässe, für die die Konditorei die süßen Verführungen lieferte. Hochzeiten, Geburtstage, Jubiläen, Einschulungen, Familienfeste. „Es war alles dabei.“ An einen Auftrag kann sich Stephan Gerads noch besonders gut erinnern. „Wir sollten eine Torte zum Thema Musik machen, mit Noten und Instrumenten. Anlass sollte eine Album-Release-Party sein.“ Mehr hätten sie damals nicht gewusst. „Später habe ich dann erfahren, dass die Torte für Santiano war, die ihre neue Platte gefeiert haben.“
Mit ihren süßen Kreationen hat Familie Gerads auch die Stadtgeschichte begleitet. „Zum 50. Stadtjubiläum haben wir die Torte beigesteuert“, erzählt Gerads senior. „Die war am Ende so hoch, dass man zum Anschneiden auf eine Leiter steigen musste“, erinnert er sich. „Zehn Etagen waren das bestimmt.“
Die Corona-Zeit überstand die Konditorei Gerads mit Kurzarbeit
Als die Delegation aus Ahrensburgs spanischer Partnerstadt Esplugues erstmals zu Besuch war, bewirtete der Konditormeister die Gäste in seinem Café. „Einige Jahre später war ich dann mit in Spanien und habe auf der Messe Firesplugues Marzipanfiguren modelliert“, erzählt Gerads. Der Erlös sei zugunsten einer örtlichen Behindertenschule gespendet worden.
Die Entscheidung, das Geschäft aufzugeben, haben sich Vater und Sohn alles andere als leicht gemacht. „Die Kosten laufen einem weg. Irgendwann muss man die Reißleine ziehen“, sagt Klaus-Peter Gerads. Die Corona-Zeit hätten sie mit Kurzarbeit überlebt, auch die monatelange Baustelle an der Hamburger Straße, direkt vor ihrer Haustür.
Steigende Materialkosten und Bürokratie führten letztlich zum Aus
Doch immer höhere Materialkosten, steigende Löhne und hohe Energiekosten hätten dem Familienbetrieb zugesetzt. „Sahne ist heute fast doppelt so teuer wie noch vor einigen Jahren“, so der Senior. Hinzu komme immer mehr Bürokratie. „E-Rechnung, Lieferkettenkontrollgesetz und so weiter – inzwischen ist das so viel geworden, dass ich eigentlich eine Bürokraft extra einstellen müsste, die sich um all das kümmert“, sagt Stephan Gerads.
Vor einigen Wochen seien sie deshalb zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht mehr weitergeht. „Irgendwann ist dann halt Feierabend“, sagt Klaus-Peter Gerads nüchtern. Dabei hätte die nächste Gerads-Generations schon bereitgestanden, um das Geschäft zu übernehmen: Stephans Tochter Jennifer hat eine Ausbildung zur Bäckerei-Fachverkäuferin absolviert, und auch Sohn Kevin arbeitet in der Konditorei mit. Dazu wird es nun nicht mehr kommen.
Auf Instagram reagieren Nutzer bestürzt auf die Geschäftsaufgabe
Fest steht: Viele Ahrensburger werden die Konditorei Gerads vermissen. Auf Instagram reagierten zahlreiche Nutzer bestürzt auf das bevorstehende Aus für das Traditionscafé. „Der weltbeste Kuchen weit und breit und nicht zu ersetzen“ und „Das ist so traurig“ lauten einige der Kommentare unter dem Beitrag, in dem Stephan Gerads die Geschäftsaufgabe vor wenigen Tagen verkündete. Noch knapp zwei Monate bleiben nun, dann wird auch dieser eine Ort, an dem die Zeit stillzustehen schien, Vergangenheit sein.