Wiemersdorf/Bad Bramstedt. Die Recherche eines Abendblatt-Reporters half mit, dass das grausame Schicksal von 16 Kindern nicht in Vergessenheit gerät.

Mit diesem Gedenkort schließt sich ein Kreis. Zumindest für mich. Deshalb ist dieser Artikel an einigen Stellen persönlich und in der Ich-Form geschrieben. Was für einen Bericht normalerweise unüblich ist, gebietet in diesem Fall die Sache selbst. Es geht um den Gedenkort für das „Ostarbeiter-Kinderheim“, der am Sonntag in Wiemdersdorf eingeweiht worden ist.

Gudrun Offen, die in der Gemeinde lebt, hat eine Steinskulptur geschaffen. Sie soll eine würdevolle Erinnerung an die Opfer des Heims darstellen, so Wiemersdorfs Bürgermeisterin Angela Kruppa. Gemeinsam mit Pastorin Petra Fenske verlas sie die Namen von 16 Kindern, die zwischen 1943 und 1945 im „Ostarbeiter-Kinderheim“ gelebt haben und sterben mussten. Die Zahl der Überlebenden und ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Helge Buttkereit
Gudrun Offen hat die Steinskulptur geschaffen, die an die 16 toten Kinder der Zwangsarbeiterinnen erinnert. © helge buttkereit | Helge Buttkereit

Die Mütter wurden als Arbeiterinnen auf den Höfen gebraucht, Kinder störten da nur

Das Heim selbst befand sich vor gut 80 Jahren am Ziegeleiweg in der Gemeinde nördlich von Bad Bramstedt und zwar dort, wo jetzt der Gedenkort eingeweiht wurde. Hier waren die Kinder von osteuropäischen Frauen untergebracht, die im Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden sind. Viele dieser Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion waren jung, einige wurden schwanger und bekamen Kinder.

Väter waren oft die männlichen Zwangsarbeiter mit gleicher Herkunft, zuweilen waren auch ganze Familien verschleppt worden. Im Wiemersdorfer „Ostarbeiter-Kinderheim“ wurden einige der Kinder verwahrt. Denn . Wenn die Mütter sich nicht nach der Arbeit um sie kümmern konnten, wurden die Kleinen nur wenige Wochen bis Monate alt.

Schicksal der Kinder war über viele Jahre verdrängt und vergessen worden

Das Schicksal der Kinder war über viele Jahre verdrängt und vergessen worden. In Wiemersdorf wusste kaum jemand etwas davon, wie bei der Eröffnung des Gedenkortes von vielen Seiten gesagt wurde. Es erinnerte auch nichts mehr an die Kinder, nachdem bereits in den 50er-Jahren die Gräber auf den Friedhof in Bad Bramstedt aufgelöst worden waren. Der Historiker Uwe Fentsahm stieß dann vor 20 Jahren in den Akten des Arbeitsamts Neumünster auf einen Hinweis, dort hieß es, dass eine kaum 15-jährige Zwangsarbeiterin in einem „Kinderheim für ausländische Kinder“ nach Wiemersdorf geschickt wurde. Fentsahm sammelte Material, ging der Sache aber zunächst nicht weiter nach. So stieß ich 2017 auf das „Kinderheim“.

Hintergrund für mein Interesse war meine Abendblatt-Serie zu Gedenkorten für die Opfer der NS-Zeit. 70 Jahre nach Kriegsende habe ich im Jahr 2015 für mehrere Orte im Kreis Segeberg sowohl die Geschichte der jeweiligen Gedenkorte und ihrer Hintergründe aufgeschrieben. Themen waren unter anderem die Konzentrationslager Wittmoor in Norderstedt, Kaltenkirchen in Springhirsch und Kuhlen in Rickling, aber auch die Erinnerung an den ehemaligen Klinikleiter in Bad Bramstedt, Oskar Alexander, oder den Todesmarsch von Hunderten Auschwitz-Häftlingen bis in den Osten des Kreises nach Glasau.

Zwangsarbeiter, die starben, bekamen ein Kriegsgrab. Deren Kinder nicht – sie hatten ja nicht gearbeitet

Aus der Serie entstand ein Buch, das Anfang 2018 unter dem Titel „Verdrängen, Vergessen, Erinnern“ (Segeberger Edition, ISBN 978-3-944570-62-4 , 12 Euro) erschien. Dafür hatte ich zuvor weiter recherchiert, um eine Übersicht über alle und damit auch kleinere Erinnerungsorte im Kreis Segeberg zu bekommen. Diese sind zum Teil auf den verschiedenen Friedhöfen zu finden, wo zum Beispiel Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge bestattet worden sind. Eine komplette Liste dieser Gräber vom Landesverband des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge hatte ich vorliegen, diese Liste enthält auch aufgelöste Gräber, darunter viele Kindergräber. Das machte mich stutzig.

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Die von Gudrun Offen gestaltete Steinskulptur. © helge buttkereit | Helge Buttkereit

Grund für diese Auflösung war, dass sie nach Auffassung der Behörden keine Kriegsgräber darstellten. Wer als Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt wurde und starb, bekam ein Kriegsgrab. Deren Kinder hatten aber nie gearbeitet – also erfüllten sie die Kriterien der Behörden nicht, was allerdings in den 60er-Jahren revidiert wurde. Gräber gab es damals aber kaum noch. Im Kreis Segeberg ist bis heute in Seth ein Grabstein erhalten, auf dem Erwachsenen und Kindern gedacht wird. Zudem existieren noch Gräber in Sülfeld, die Kirchengemeinde ist derzeit dabei, die Geschichte der Zwangsarbeiter aufzuarbeiten.

Kinder starben an einer „Ernährungsstörung“ – sie sind verhungert!

Das Schicksal der Kinder war mir damals neu. Den Hinweis auf Wiemersdorf fand ich in einer Online-Datenbank und recherchierte weiter. Für Wiemersdorf konnte ich in den Unterlagen des Standesamts Gewissheit finden. In den Sterbefallanzeigen ist vom „Ostarbeiter-Kinderheim“ die Rede. Zudem steht dort in einigen Fällen die Todesursache „Ernährungsstörung“.

Die Kinder sind also vermutlich verhungert. Als ich 2017 mit dem für Wiemersdorf zuständigen Pastor Bernd Hofmann über die Geschichte sprach, hörte er sich um. Er erfuhr von einer Zeitzeugin, der Tochter des damaligen Meiereibesitzers, dass einmal bei ihr zu Hause geklopft und nach Milch gefragt worden sei, da sonst die Kinder sterben müssten. Es soll nichts gegeben haben.

Helge Buttkereit
Wiemersdorfs Bürgermeisterin Angela Kruppa und Pastorin Petra Fenske verlasen die Namen von 16 Kindern, die zwischen 1943 und 1945 im „Ostarbeiter-Kinderheim“ gelebt haben und sterben mussten.  © helge buttkereit | Helge Buttkereit

Sehr viel mehr konnte ich damals noch nicht aufschreiben, ich wusste nur noch, dass der Wiemersdorfer Bürgermeister nach Kriegsende von polnischen Zwangsarbeitern erschlagen worden war. „Die Rache galt ihm, weil er unter den Fremdarbeitern geborene Säuglinge in einem Ziegeleigebäude unter schlechten hygienischen Bedingungen unterbringen ließ, wobei mehrere Todesfälle durch Typhus zu beklagen waren“, schrieb der Wiemersdorfer Karl-Heinrich Delfs im Jahr 2013 in einem lokalen Erinnerungsbuch.

Auf dem Friedhof Bad Bramstedt wurden 2023 Erinnerungssteine für jedes tote Kind aufgestellt

Das Schicksal der Kinder von Wiemersdorf wurde nach meiner Buchveröffentlichung von verschiedenen Zeitungsartikeln und vom „Schleswig-Holstein-Magazin“ des NDR aufgegriffen. Ich sprach damals davon, dass es gut wäre, wenn aus dem Buch über Gedenkorte im Kreis Segeberg ein neuer erwachsen würde.

Uwe Fentsahm hat nach meiner Buchveröffentlichung weiter recherchiert, viele Details zutage geführt und einen ausführlichen Aufsatz zunächst im Internet und dann im Heimatkundlichen Jahrbuch des Kreises Segeberg veröffentlicht. Auch die Kirchengemeinde hat sich des Themas angenommen.

Unter der maßgeblichen Mitwirkung von Hans-Jürgen Kütbach, dem Vorsitzenden des Fördervereins der KZ Gedenkstätte Kaltenkirchen, sind 2023 auf dem Friedhof Bad Bramstedt Erinnerungssteine für jedes tote Kind aufgestellt worden. Dazu kamen Tafeln auf dem Friedhof, die die Geschichte weiter einordnen. Mit den beiden Gedenkstätten in Bad Bramstedt und dem Gedenkort am Ort des Kinderheims in Wiemersdorf schließt sich also für mich ein Kreis. Das Buch über Gedenkorte hat neue initiiert.

Tote Zwangsarbeiterkinder: Arbeit an der Erinnerung in Wiemersdorf geht weiter

In meinem Buch schrieb ich zu Beginn: „Geschichte muss wachgehalten werden, sonst verschwindet sie aus dem allgemeinen Bewusstsein, wird sie wieder vergessen. Das gilt für die Geschichte allgemein, aber ganz besonders zweifellos für die Geschichte des deutschen Faschismus, des Nationalsozialismus, der im Kreis Segeberg und der Region des südlichen Holsteins eine wichtige Basis hatte. Diese Geschichte war lange Jahre verdrängt worden. Die Tatsache, dass spätestens seit den 1980er-Jahren vielerorts Gedenkorte entstanden, zeigt, dass das Verdrängen zumindest zu großen Teilen überwunden ist.“

Nun ist auch in Wiemersdorf das Verdrängen überwunden worden. Und die Arbeit an der Erinnerung in Wiemersdorf geht weiter. Bei der Veranstaltung nach der Eröffnung des Gedenkortes gab es viele Wortbeiträge und Anregungen, weiter zu forschen.