Sülfeld. Pastor und Archivar der Gemeinde recherchierten Geschichte ausländischer Kriegstoter. Russische Botschaft schickt Dankschreiben.
Die Gedenkfeier zum Volkstrauertag hat in diesem Jahr auf dem Sülfelder Friedhof einen ganz besonderen Charakter. Am Sonntag, 17. November, werden die neugestalteten Gedenkstätten für Kriegstote aus dem Dorf und hier umgekommene ausländische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter eingeweiht (10.15 Uhr). Erstmals konnten Einzelschicksale von Menschen ermittelt werden, die der Krieg und seine Folgen und diese Ecke Deutschlands verschlagen hatte.
Da ist zum Beispiel das dramatische Schicksal der jungen Polin Irena Sekita: Sie war Häftling Nummer 121/741, untergebracht im Block 28, dem Lagerbordell des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der Stadt Oranienburg, nördlich von Berlin. Später kam sie ins Sammellager Itzstedt, das von der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen betreut wurde. Ihre genehmigte Ausreise in die USA erlebte die 1928 in Warschau geborene Frau nicht mehr: Am 3. August ertrank sie nach einem Herzinfarkt im Itzstedter See.
Kriegsschicksale: Den Gräbern wurden jetzt die letzten Geheimnisse entlockt
Ein Schicksal von vielen, das wahrscheinlich in Vergessenheit geraten wäre, wenn nicht einige Mitarbeiter der Kirchengemeinde Sülfeld hartnäckig nachgeforscht hätten, um den Gräbern der ausländischen Kriegsopfer auf dem Sülfelder Friedhof die letzten Geheimnisse zu entlocken. In mühevoller Kleinarbeit hat das Team um Pastor Christian Fritsch und dem ehrenamtlichen Kirchenarchivar Ulrich Bärwald die leidvollen Lebensgeschichten von Kriegstoten aus Polen, der Ukraine und der damaligen Sowjetunion recherchiert und zusammengetragen.
Die Feier zum Volkstrauertag bekommt auf dem Sülfelder deshalb eine ganz neue Dimension. Künftig soll das Gedenken an die Kriegsopfer und an die Opfer der Gewaltherrschaft dort nicht mehr nur an den Grabsteinen mit kaum lesbaren Inschriften stattfinden. Alle Bürger sollen die Lebensgeschichten der Toten erfahren. „Diese Gedenkstätte mitten im Dorf soll eine Mahnung sein, dass derartiges nirgendwo und niemals wieder geschehen darf“, sagt Ulrich Bärwald. Auf zwei massiven Stelen sind erstmals die Namen der jetzt erst ermittelten 89 Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs aus Sülfeld zu lesen. Auch die Namen der 34 Toten des Ersten Weltkriegs sind jetzt wieder lesbar.
„Vernichtung durch Arbeit“: 15 Namen und die Schicksale, die dahinter stehen
15 Namen sind an der Gedenk- und Mahnstätte für die ausländischen Kriegstoten aus dem Dorf zu lesen. 15 Menschen, die in Sülfeld und den umliegenden Gemeinden, die damals zum Kirchspiel gehörten, ihr Leben lassen mussten. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurden immer mehr Kriegsgefangene vorwiegend aus Polen, der Ukraine und der Sowjetunion aber auch aus Frankreich, Belgien und anderen Ländern zur Zwangsarbeit in die Dörfer zur Verrichtung überwiegend der landwirtschaftlichen Arbeiten deportiert: „Vernichtung durch Arbeit“ war dazu die Ideologie der Nationalsozialisten. Die heimischen jungen Männer waren eingezogen zum Kriegsdienst.
Die Zwangsarbeiter mussten täglich die schwere Feldarbeit erledigen, waren nur unzureichend untergebracht und versorgt. Die jungen Frauen brachten hier ihre Kinder zur Welt, konnten sie aber nicht angemessen versorgen und hatten selbst keine Schonzeiten; in der Folge überlebten zahlreiche Kinder diese Strapazen nicht, sie wurden auch aus den umliegenden Dörfern auf dem Friedhof in Sülfeld bestattet
Die verstorbenen Kinder haben auf dem Sülfelder Friedhof ein dauerhaftes Ruherecht
Unter den an der Gedenkstätte verewigten Namen sind denn auch einige Kinder. Unter ihnen die Polin Gertrude Kuberska, 1942 geboren, 1946 verstorben; der Pole Franz Nocum, 1943 geboren, 1944 verstorben; die Polin Danumito Danielewska, 1945 geboren, 1945 verstorben. Kinder, die in fremder Erde begraben wurden, die niemand von den Einheimischen gekannt hat, deren Mütter bittere Tränen vergossen haben. Jetzt haben diese Schicksale zwar kein Gesicht, aber einen Namen bekommen.
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Im Gegensatz zu vielen anderen Begräbnisstätten im Land sind gerade diese Kindergräber auf dem Friedhof in Sülfeld in den Jahren nach dem Krieg nicht eingeebnet worden. Diese Verstorbenen des Krieges haben ein dauerhaftes Ruherecht auf dem Friedhof Sülfeld.
Zwei Kriegsgefangene wurden nach einem Gemüsediebstahl erschlagen und im Wald verscharrt
Gegen Ende des Krieges wurden auf den Todesmärschen aus den Konzentrationslagern in Richtung Norden auch sowjetische Kriegsgefangene durch das Dorf getrieben. Zwei von ihnen sind von der SS in Sülfeld ermordet worden, sie fanden zeitweilig ihre Ruhestätte auf diesem Friedhof. Im April 1945 wurden sie beim Durchzug eines Gefangenentransports nach einem Gemüsediebstahl vom Feld von Wachleuten angeschossen und dann Angehörigen des im Borsteler Wald gelegenen SS – Wehrgeologen Bataillons übergeben worden. Diese haben die beiden Kriegsgefangenen erschlagen und im Borsteler Wald verscharrt.
Auf Anordnung der britischen Militärregierung wurden die Toten dort nach Kriegsende wieder ausgegraben und am 10. September 1945 auf dem Dorffriedhof bestattet. Seit 1961 liegen die ermordeten Männer auf dem Ehrenfriedhof Haddebyer Noor bei Schleswig. Die Namen der beiden Männer sind auf keiner Tafel an der Gedenk- und Mahnstätte zu finden: Sie sind bis heute unbekannt.
Die Erinnerungskultur und die Bemühungen der Sülfelder Kirche, wenigstens etwas Licht in das Dunkle der Vergangenheit zu bringen, fand Anerkennung. Die Berliner Botschaft der russischen Föderation bedankte sich im September schriftlich für die geleistete Archivarbeit. Die aus Sülfeld gelieferten Daten wurden geprüft und für schlüssig befunden. „Wir wissen unsere Zusammenarbeit hochzuschätzen“, schreibt die stellvertretende Büroleiterin Juliia Gordeeva.
Volkstrauertag im Kreis Segeberg
Am kommenden Sonntag wird beim Volkstrauertag in vielen Orten im Kreis Segeberg wieder mit Gottesdiensten und anschließenden Kranzniederlegungen der Opfer von Kriegen und Gewalt gedacht.
In Norderstedt beginnt die Hauptveranstaltung um 11.15 Uhr am Mahnmal der Kirchengemeinde Glashütte, Hummelsbütteler Steindamm 2. Weitere Kranzniederlegungen sind nach den jeweiligen Gottesdiensten in den Stadtteilen vorgesehen: Um 10.45 Uhr am Mahnmal Friedrichsgabe, um 11.15 Uhr an den Mahnmalen auf dem Friedhof Garstedt, um 11.20 Uhr am Mahnmal Friedhof Harksheide und gleichzeitig am Mahnmal Kirchenplatz, um 11.30 Uhr am Mahnmal Weg am Denkmal, um 12 Uhr am Mahnmal „Berliner Mauer“ an der Ochsenzoller Straße.
Stadtpräsidentin Petra Müller-Schönemann lädt die Bevölkerung ein, die Gedenkveranstaltungen zu besuchen, „um damit ein Zeichen für die internationale Verständigung und den interkulturellen Austausch zu setzen“. Besonders in Zeiten globaler Unsicherheiten, wie sie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine erneut verdeutlicht, werde die Mahnung aus der Geschichte deutlich: „Frieden und Demokratie müssen aktiv bewahrt und verteidigt werden.“
Henstedt-Ulzburg: Im Ortsteil Henstedt um 12.30 Uhr (im Anschluss an den Gottesdienst) vor dem Ehrenmal auf dem Friedhof Henstedt. Im Ortsteil Ulzburg um 14.30 Uhr vor dem Ehrenmal auf dem Beckersberggelände.
Kaltenkirchen: Im Anschluss an den Gottesdienst in der Michaeliskirche erfolgt gegen 12.30 Uhr der Gang zum Friedhof mit der offiziellen Kranzniederlegung. In den Räumlichkeiten der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen-Springhirsch an der B 4 in Nützen hält der Politikwissenschaftler und Historiker Dr. Harald Schmid einen Vortrag über den Volkstrauertag, seine Entstehung, Wandlung unter den braunen Machthabern zum „Heldengedenktag“ und seine Auswirkungen bis heute (14.30 Uhr).
Bad Segeberg: Feierstunde auf dem Ehrenfriedhof am See ( 15 Uhr).