Kreis Segeberg. Zum Abschluss unserer Serie über die Gedenkorte für die Opfer des Nationalsozialismus geht es um die Häftlinge des KZ Fürstengrube.
Ein Gedenkstein und eine Stele in der kleinen Gemeinde Glasau ganz im Nordosten des Kreises Segeberg zeugen davon: Das lange Schweigen ist gebrochen. Jahrzehntelang wollte kaum jemand in dem idyllischen Dorf etwas von der dunklen Vergangenheit wissen. Einer der ihren war Lagerführer im Konzentrationslager Fürstengrube, einem Außenlager des 30 Kilometer entfernten KZ Auschwitz. Er hatte 1945 KZ-Häftlinge in sein Heimatdorf und in das benachbarte Siblin geführt. Auch das wollte niemand wissen, selbst die Pastorin und die örtliche SPD deckten in den 1980er-Jahren offenbar um des lieben Friedens Willen den 2002 verstorbenen Max Schmidt. So erzählt es Gerhard Hoch, der sowohl die Geschichte des Lagers Fürstengrube, wie auch der Todesmärsche nach Holstein detailliert aufgeschrieben hat.
Erst nachdem sein Buch „Von Auschwitz nach Holstein“ 1990 erstmals erschien, wurde das Schweigen langsam durchbrochen. Auch vor Ort. In Ahrensbök, zu dem das Dorf Siblin seit 1933 gehört, bildete sich auf Initiative von Pastor Michael Schwer die Gruppe 33. Sie errichtete an der Bundesstraße 432 eine Gedenkstätte für das 1933 in Ahrensbök errichtete wilde KZ, in dem eine Ausstellung über den Todesmarsch der Häftlinge von Lübeck nach Siblin und Glasau zu sehen ist, die bis heute jeden Sonntag für Besucher offen steht. Mittlerweile gebe es auch mit der Kirchengemeinde Sarau, die für die Dörfer Glasau und Siblin zuständig ist, sowie mit der Gemeinde Glasau ein gutes Miteinander, sagt Monika Metzer-Zinßmeister. Sie hat als damalige Vorsitzende des Trägervereins der Gedenkstätte die Ausstellung konzipiert.
Max Schmidt hatte SS-Führerschule absolviert
Der Marsch selbst und sein Ziel sind von Max Schmidt nicht zu trennen. Er wuchs in Glasau auf und wurde im März 1944 Lagerführer des KZ Fürstengrube, das er bis zur Evakuierung im Januar 1945 leitete. Schmidt war bereits seit 1941 in Auschwitz, absolvierte die SS-Führerschule in Bad Tölz und wurde zum SS-Oberscharführer befördert. Danach bildete er Freiwillige aus der Ukraine aus, bis er Lagerführer eines der größten Außenlager des KZ Auschwitz wurde. In Fürstengrube mussten die meist jüdischen Häftlinge Steinkohle abbauen. Völlig unzureichend vorbereitet und gekleidet kamen die meisten von ihnen entweder durch die Arbeit und die Torturen im Lager selbst um oder wurden, von den Verantwortlichen für den Abbau, hinter denen die IG Farben stand, aussortiert und im Hauptlager umgebracht. „Wir waren alle Todeskandidaten“, sagte später einer der überlebenden jüdischen Häftlinge, als die Staatsanwaltschaft Kiel 1964 doch noch begann, gegen Max Schmidt zu ermitteln.
Die im Lager durch ständige Qualen, durch schlechte Ernährung und Kleidung geschundenen Häftlinge erreichten laut des Direktors der Fürstengrube 50 bis 60 Prozent der Arbeitsleistung eines deutschen Hilfsarbeiters. Aber auch wenn die Kohleförderung für die Kriegsindustrie wichtig war, die Bedingungen im Lager wurden für die Masse der Häftlinge nicht verbessert. An den schweren Bestrafungen, beispielsweise durch die Stockschläge auf dem sogenannten Bock, beteiligte sich offenbar auch Lagerführer Schmidt. Bessere Bedingungen hatten nur die Kapos und die Kapelle des Lagers, deren Mitglieder von Schmidt und seinem Vorgänger ausgewählt worden waren und die nicht mehr in die Grube mussten. Für Schmidt sollten seine Günstlinge später eine besondere Rolle spielen.
Auschwitz und Außenlager im Januar 1945 evakuiert
Als sich die Front im Januar 1945 näherte, wurden das KZ Auschwitz und seine Außenlager geräumt. Kein Häftling sollte der anrückenden sowjetischen Armee in die Hände fallen. Keiner sollte Zeugnis dafür ablegen, welche Gräuel sich hier abgespielt hatten. Viele der Zurückgelassenen, die krank und marschunfähig waren, wurden nach der Räumung der Lager durch SS-Männer ermordet. Diejenigen, die sich noch auf den Beinen halten konnten, wurden auf Todesmärsche und Todesfahrten geschickt. Wer überlebte, sollte weiter für den Endsieg arbeiten. Der allerdings war längst obsolet geworden.
Wie grausam die Evakuierung auch von Fürstengrube abgelaufen ist, zeigen einige Aussagen der Überlebenden des Todesmarsches unter der Führung von Max Schmidt. „Hinter unserer Marschkolonne knallte es laufend.“ „Der Weg war besät mit Toten.“ „Ich befürchtete, wenn ich haltmache, werde ich erschossen.“ Gerhard Hoch hat zahlreiche Aussagen gesammelt, nach denen auch der Lagerführer selbst schwache, zurückbleibende Häftlinge erschossen hat. Ein Augenzeuge sagte, dass er mit eigenen Augen gesehen habe, dass der Lagerführer Häftlinge „eigenhändig mit seiner Dienstpistole erschoss“.
Der Weg führte die Häftlinge aus Fürstengrube zunächst nach Gleiwitz. Von dort wurden sie mit dem Zug in offenen Kohlewagen – bei minus 20 Grad, völlig unzureichender Kleidung und miserabler Verpflegung – über Mauthausen bei Linz nach Nordhausen verbracht. Die wenigen, die die knapp zweiwöchige Todesfahrt überlebten, kamen in ein Lager bei Blankenburg, das wie die Fahrt unter Schmidts Leitung stand. Dort sollten die Häftlinge einen Stollen möglicherweise für die Produktion der „Wunderwaffe“ V2 vorbereiten. Zur Produktion selbst dürfte es nicht mehr gekommen sein. Das Vordringen der Alliierten im April 1945 führte allerdings zu einer Panikstimmung, Schmidt bekundete später: „Eine vorgesetzte Dienststelle war für mich nicht mehr vorhanden.“ Er sei sich selbst überlassen gewesen. Mit den noch überlebenden Häftlingen machte er sich am 6. April 1945 auf den Weg in Richtung Norden.
Die Häftlinge aus Fürstengrube unter der Bewachung von Schmidt und seinen SS-Männern trafen auf ihrem nächsten Todesmarsch diesmal nach Magdeburg einen weiteren Zug von Häftlingen. Diese Häftlinge waren vor allem Belgier. Sie bildeten das Kommando „Klosterwerke“, das im August 1944 als KZ Blankenburg-Oesig zunächst als Außenlager des KZ Buchenwald und später des KZ Mittelbau eingerichtet worden war. Auch sie sollten in der unterirdischen Rüstungsproduktion arbeiten. Am 5. April mussten sie das Lager verlassen und gelangten gemeinsam mit dem Kommando „Fürstengrube“ über Magdeburg per Schiff nach Lübeck, von dort startete der nächste Todesmarsch nach Siblin und Glasau. „Die Leute boten ein Bild vollkommenen menschlichen Jammers. Die waren entsetzlich verhungert und abgerissen, liefen teilweise barfuß oder ohne Strümpfe in Holzschuhen“, sagte eine Augenzeugin aus.
Schmidts Vater saß für NSDAP im Gemeinderat
Der spätere Hochschullehrer Jörg Wollenberg sah als damals Achtjähriger den Zug der Häftlinge: „Ausgemergelte Gestalten schleppten sich mühsam fort – es waren Skelette von Menschen.“ Es blieb dabei: Wer nicht mehr konnte, wurde erschossen.
Von den gut 1200 Gefangenen aus Fürstengrube waren noch etwa 200 am Leben, sie wurden in einer Feldscheune in Siblin untergebracht, während die Überlebenden aus dem Kommando „Klosterwerke“ in der Nacht auf den 14. April 1945 in eine Scheune auf dem Gut Glasau gebracht wurden. Einige privilegierte Häftlinge indes, vor allem Mitglieder der Lagerkapelle, kamen auf dem Hof des Vaters von Max Schmidt unter, der für die NSDAP schon 1933 im Gemeinderat saß. Auch in den beiden Scheunen gingen die Qualen weiter. So wurden zwei junge sowjetische Häftlinge in Siblin von einem SS-Mann erschossen, weil sie sich bereits weitgehend verrottete Rüben von der letzten Ernte aus einer Scheune zum Essen geholt hatten. Auch in Glasau wurde gemordet, ein ehemaliger belgischer Häftling konnte eine Liste von allein 18 Landsleuten zusammenstellen, die nach der Einquartierung in der Scheune auf dem Gut umgebracht wurden.
Schmidt übernahm den elterlichen Hof in Glasau
Nach Verhandlungen des schwedischen Roten Kreuzes mit deutschen Stellen, nahmen die Schweden vor allem westeuropäischen Häftlinge ab dem 30. April in Obhut. Die meisten Juden sowie die anderen polnischen und sowjetischen Häftlinge mussten erneut marschieren. Diesmal in Richtung Küste. Das letzte Mal wurde dieser Marsch geführt von Max Schmidt, wieder wurden einige von ihnen erschossen. Der Rest wurde auf die beiden Schiffe „Cap Arcona“ und „Thielbek“ gebracht, die bereits mit KZ-Häftlingen überfüllt waren. Die britische Luftwaffe beschoss beide Schiffe sowie einige andere am 3. Mai 1945. Sie sanken vermutlich, weil die Briten fürchteten, dass sich besonders belastete Nationalsozialisten abzusetzen versuchten. Ein schrecklicher Irrtum, der vielen Tausend Häftlingen den Tod brachte, unter ihnen zahlreiche Häftlinge, die zuvor in Glasau und Siblin festgehalten worden waren.
Max Schmidt tauchte nach Kriegsende unter. Die privilegierten Juden versteckten ihn zunächst auf dem Hof. Sie waren noch vor Ort und verdankten ihr Leben in gewisser Weise ihrem Lagerführer, der für so viele andere Tote verantwortlich war. Sie halfen ihm auch, über Dithmarschen und Bremen nach Ibbenbüren unterzutauchen, wo er einige Jahre in einem Bergwerk arbeitete. Aber schon in den 1950er-Jahren kehrte er in die Heimat zurück, übernahm den elterlichen Hof und blieb trotz langjähriger Ermittlungen unbehelligt. Obwohl er auf einer Liste derer stand, gegen die wegen der Verbrechen in Auschwitz ermittelt wurde, wurde das förmliche Ermittlungsverfahren gegen ihn erst 1964 eröffnet. Vor Ort waren es jedoch nicht die vielen toten Häftlinge, denen das Mitleid der Mitbürger galt. Ein Dorfchronist empörte sich 1980 über die Verfolgung Schmidts und seines Vaters, über die Opfer fand er kein Wort. Schmidt wurde 1979 außer Verfolgung gesetzt.
In seiner Gemeinde wurde er lange Zeit gedeckt, erst in den vergangenen Jahren stellte sich auch Glasau der Geschichte. Als beispielsweise 2006 den Opfern in der Scheune auf dem Gut Glasau gedacht wurde, vor der seit 1990 ein vom Besitzer selbst errichteter Gedenkstein an die Opfer erinnert, sprach auch Glasaus Bürgermeister ein Grußwort. Gegenüber der Kirche steht seit dem 1. September 1999 eines von zwölf Wegzeichen, die an der Strecke des Todesmarsches an die Leiden der Häftlinge erinnern sollen. Das Andenken an das Leid der geschundenen Männer damals, so erklärte Gerhard Hoch bei der Aufstellung der Wegzeichen, ermutige Menschen heute, für eine Politik einzutreten, „die Nähe zu Opfern schafft“.