Reinbek. Digitalisierung macht die Papierakte bald überflüssig. Modernisierungsprojekt sorgt für gemischte Gefühle. Was sich im Detail ändert.
Noch stapeln sich die Akten im Arbeitszimmer von Ulrich Fieber, Richter und Direktor des Reinbeker Amtsgerichts. Vom kommenden März an aber werden die vielen grauen, blauen und roten Mappen immer mehr vom Schreibtisch verschwinden und drei PCs Platz machen. Das Amtsgericht stellt auf die elektronische Aktenführung um. „Alle neuen Verfahren werden dann rein digital geführt“, erklärt Fieber. Eine einfache E-Mail reiche aber nicht aus. Rechtssicher und verschlüsselt müsse der Schriftverkehr schon sein. Über entsprechende Programme verfügen Kanzleien.
Grundlage dafür ist das Digitalisierungsgesetz. Danach soll Schleswig-Holsteins Justiz bis Ende 2025 digital werden. „Als wohl größtes Modernisierungsprojekt, das in der Justiz jemals durchgeführt worden ist“, bezeichnete der vorherige Justizminister Claus Christian Claussen (CDU) diesen Schritt. Um den Rechtsstaat fit für die Zukunft zu machen, sei die Digitalisierung ein notwendiger Schritt. Claussen war stolz, dass Schleswig-Holstein auf dem Gebiet Vorreiter ist.
Amtsgericht Reinbek wird schneller – aber erst mal langsamer
Den Anfang machten Ende 2021 die Fachgerichte wie Sozial-, und Verwaltungsgerichte sowie das Finanzgericht. Dann folgten 2022 alle vier Landgerichte und Anfang diesen Jahres das Oberlandesgericht in Zivilsachen. Seit März erfolgt schrittweise die Umstellung in den 22 Amtsgerichten in allen Fachbereichen mit Ausnahme der Nachlasssachen sowie Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren. Die hier angesiedelten Grundbuchämter werden bereits digital geführt.
Daher ändert sich mit der Digitalisierung in der Justiz für den einzelnen Bürger wenig, für beauftragte Anwälte hingegen schon. „Bei Vollstreckungen beispielsweise haben Bürger weiterhin die Möglichkeit, herzukommen und die Formulare vor Ort auszufüllen“, sagt Fieber. Die Option bleibt bestehen.
Polizei muss auch auf Papier verzichten
Im letzten Schritt soll Anfang 2025 die Einführung der E-Akte bei den Staatsanwaltschaften erfolgen, allerdings setzt das voraus, dass auch die Landespolizei auf E-Akte umstellt. Das soll laut Plan bis Ende 2025 der Fall sein.
Rund 200 Millionen Euro lässt sich laut Justizministerium das Land das Projekt eJustizSH kosten. Geld, das in zusätzliches Personal, in Schulungen und Fortbildungen, in neue technische Ausstattung in den Gerichten, in die Software und den Betrieb des Rechenzentrums fließt.
Drei Reinbeker Gerichtssäle werden bis 2024 digital aufgerüstet
Auch im Amtsgericht Reinbek sollen die drei Gerichtssäle umgebaut und mit neuen Präsentations- und Netzwerktechniken sowie großen Monitoren ausgestattet werden, auf denen Zeugen von außerhalb zugeschaltet und gerichtssicher befragt werden können.
Mit einem Umbau in der im Privatbesitz befindlichen Villa an der Parkallee rechnet Direktor Fieber nicht vor Herbst nächsten Jahres. Bis dahin werden die Schulungen der aktuell 64 Mitarbeiter schon lange abgeschlossen sein. Eine Projektgruppe wurde eingerichtet, eine Urlaubssperre verhängt.„Mit großer Aufgeschlossenheit und einem leichten Unbehagen“ blicken viele Mitarbeiter der Umstellung entgegen. „Die ist schon ein großer Einschnitt in unsere bisherige Arbeitsweise“, sagt Geschäftsleiter Lars Kynhoff. Vor allem das Einscannen von Papiereingängen ist ein riesiger Mehraufwand. Dafür wird extra eine Scanstraße aufgebaut.
Scan-Straße wird eingerichtet – neuer Mitarbeiter wird gesucht
Auf die Mehrbelastung reagiert das Ministerium und hat beim Personal an den Gerichten aufgestockt. „Ab Oktober suchen wir einen Justizangestellten, der uns im Geschäftsbereich unterstützt“, sagt Kynhoff. Den ganzen Tag an der Scan-Straße wird der oder die Neue aber nicht stehen, beruhigt der 43 Jahre alte Rechtspfleger in leitender Position.
„Die Umstellung auf die rein elektronische Arbeit ist eine große Herausforderung, die jedem unterschiedlich leicht oder schwer fällt. Natürlich hakt manchmal die Technik am Anfang, aber insgesamt klappt die Umstellung gut“, sagt Oliver Breuer, Sprecher des Justizministeriums.
Die Rückmeldungen aus anderen Amtsgerichte wie Itzehoe und Pinneberg, die die Umstellung bereits vollzogen haben, sind allerdings andere. „Da ruckelt es an manchen Stellen – vor allem im technischen Bereich – heftig“, sagt Ulrich Fieber, der zugleich als Sprecher der Neuen Richtervereinigung in engem Austausch mit anderen Richtern und Staatsanwälten im Land ist. „Die Stimmung an den Gerichten ist eine aufgeregte. Die Zahl der Überlastungsanzeigen ist stark angestiegen“, weiß Fieber. Zudem sei durch die Arbeitsumstellung zu befürchten, dass Prozesse verlangsamt und Verfahren noch länger dauern werden.
Nach der Umstellung dauern die Verfahren zuerst länger, Archiv wird zukünftig kleiner
Dabei soll die Digitalisierung eigentlich genau das Gegenteil erreichen: eine Beschleunigung durch eine schnellere Übermittlung von Schriftsätzen und Gerichtsentscheidungen. „Nach Bewältigung des Umstellungsprozesses lässt sich eine langsamere Verfahrenserledigung nach den vorliegenden Erfahrungen nicht mehr feststellen“, sagt Breuer. Langfristig werden zudem Druck-, Papier- und Portokosten sowie Mietausgaben eingespart. „Unser Archiv werden wir auf absehbare Zeit sicher verkleinern“, sagt Geschäftsleiter Kynhoff, der gerade erst weitere Räume im Keller des Polizeigebäudes angemietet hat, da der Platz im Gerichtsgebäude nicht mehr ausreichte, um die mehrere Tausend Akten zu lagern. Ob zukünftig alle Büros gebraucht werden, wird sich zeigen.
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Denn der Vorteil der E-Akte ist, dass sie flexibles und „ortsungebundenes Arbeiten ermöglicht“, sagt Breuer. Ob Homeoffice immer das Nonplusultra ist, bezweifelt Richter Fieber. „Das soziale Miteinander im Büro, die Gespräche in der Teeküche darf man nicht unterschätzen“, sagt er und ist zugleich stolz auf die angenehme Arbeitsatmosphäre am Reinbeker Amtsgericht. Einen großen Vorteil sieht Fieber bei der E-Akte aber durchaus: Sie macht das zeitgleiche Arbeiten an einem Vorgang möglich. „Hast Du die Akte gerade?“ wird eine Frage sein, die zukünftig kaum noch gestellt werden muss.
Bis allerdings die letzte Akte in Papierform verschwindet, werden weitere Jahrzehnte ins Land gehen. „Ich werde das in meinem Berufsleben nicht mehr erleben“, sagt Lars Kynhoff.