Reinbek. Die Steinerts sind zu neunt und beherbergen seit einem halben Jahr noch drei vor dem Ukraine-Krieg Geflohene. Wie das klappt.
Während für viele der Jahresbeginn mit ambitionierten Vorsätzen verbunden ist, freut sich Familie Steinert einfach auf ein wenig mehr Familienalltag im kommenden Jahr. Denn seit Sommer herrscht bei den Reinbekern der Ausnahmezustand. Die Familie mit sieben Kindern, zwei Hunden, zwei Kaninchen und einem sehr großen Herzen war im Juli in ihrem Haus noch enger zusammengerückt, und hat drei ukrainische Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Seit Juli wohnen auf den rund 250 Quadratmetern an der Tannenallee zusätzlich die ukrainische Mutter Alina Khrystoforova (35) sowie ihre Tochter Victoriia (13). Im Dezember folgte noch deren Großmutter Larysa Ruzyk (67) samt Familienhund Duscha aus dem stark umkämpften Charkiw im Nordosten der Ukraine ins sichere Deutschland. „Seitdem ist unser Haus randvoll“, sagt Mutter Stephanie Steinert. Geplant war es eigentlich nicht, dass gleich drei Generationen bei ihnen Unterschlupf finden. „Doch die drei wieder zu trennen und die liebenswürdige Oma in eine öffentliche Unterkunft abzuschieben, brachte ich nicht übers Herz“, sagt Stephanie Steinert.
Bei der aussichtslosen Wohnungssuche den Tränen nah
Sie fand Verständnis und Unterstützung bei ihrem Mann Thomas, IT-Fachmann an einer Schule, und ihren Kindern im Alter von zehn bis 24 Jahren. „Wir hatten alle nach Ausbruch des Krieges das Gefühl, helfen zu wollen“, erinnert sich Stephanie Steinert an die Familiensitzung, in der einstimmig beschlossen wurde, das Haus für Fremde zu öffnen. Zumal eines der Kinder im Sommer auszog und ein Zimmer in dem Haus mit fünf Bädern, einer Küche und zwei Waschmaschinen frei wurde. Dass das Leben oft seine eigenen Wege nimmt und der Sohn kurze Zeit später wieder einzog, war eine Herausforderung, die die eingespielte Familie gut meisterte. Der jüngste Spross, der zehnjährige Jarne, stellte großherzig sein Zimmer zur Verfügung und zog samt Bett, Schrank und allen Legokisten ins Schlafzimmer der Eltern um. „Wir haben einfach ein bisschen Möbel-Tetris gespielt“, nimmt Stephanie Steinert solche ungeplanten Zwischenfälle leicht. Für Probleme findet die auch ansonsten sozial sehr engagierte Reinbekerin mit vielen Ehrenämtern fast immer eine Lösung. Sätze wie „Schaffe ich nicht“ finden sich daher auch nicht in ihrem Wortschatz.
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Nur bei der Suche nach einer Wohnung für die Ukrainerinnen war die Finanzbeamtin dann doch den Tränen nah, als es monatelang auf unzählige Anfragen und Bettelbriefe nur Absagen hagelte. „Das war ziemlich frustrierend“, fasst Stephanie Steinert zusammen. Nur durch ihre Hartnäckigkeit und einen persönlichen Kontakt geschah denn kurz vor Weihnachten ein Wunder: die Zusage für eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Reinbek flatterte ins Haus. „Wie andere Flüchtlinge das machen sollen, die auf sich allein gestellt sind, weiß ich nicht“, sagt die 54-Jährige.
Neue Bleibe ist ganz in der Nähe der Steinerts
Kommenden Dienstag erhalten sie den Schlüssel für die neue Bleibe. Die ist ganz in der Nähe der Steinerts. „Das war uns wichtig“, sagt Alina Khrystoforova, die den Steinerts „sehr sehr dankbar für alles ist“ und sie als „Anker in der Fremde“ begreift. Noch einmal in einer anderen deutschen Stadt neu anzufangen, konnte sie sich nicht vorstellen. Zumal Tochter Victoria (13) erste Kontakte am Sachsenwaldgymnasium geknüpft hat und sich tapfer durch den deutschen Unterricht kämpft. Eine Sprache, die den Ukrainerinnen bis zum Ausbruch des Krieges völlig fremd war. Sie sprachen nur Russisch. Das hat die Verständigung bis dato auch sehr erschwert. Bei den Gesprächen im Haus der Steinerts half ein Übersetzungsprogramm auf dem Smartphone.
Darüber hat Stephanie Steinert den Ukrainerinnen erklärt, dass eine Familie mit sieben Kindern auch in Deutschland ungewöhnlich ist. An so einer langen Familientafel habe sie noch nicht gesessen, sagt Alina Khrystoforova, die bewundert, wie ruhig es trotz der vielen Familienmitglieder bei den Steinerts ist.
Bis zum Ausbruch des Krieges haben Mutter, Tochter und Großmutter in einer 60 Quadratmeter großen Wohnung in Charkiw gelebt. Die Wohnung gibt es noch und die Großmutter kann sich gut vorstellen, dorthin nach Kriegsende wieder zurückzukehren. „Ich habe mein Leben lang in der Ukraine gelebt. Die Ukraine ist meine Heimat“, sagt die 67-Jährige.
Zum Abschied gibt es den aus der Heimat vermissten Borschtsch
Tochter und Enkeltochter nicken bei den Worten. Sie sind noch unschlüssig, was die Rückkehr angeht. Sie können sich auch vorstellen, für immer in Deutschland zu bleiben. „Nach dem Sprach- und Integrationskursus möchte ich auf jeden Fall wieder arbeiten“, sagt Alina Khrystoforova. In der Ukraine hat sie beim Bäcker Brot und Brötchen verkauft.
„Die neue Wohnung wird helfen, in Deutschland anzukommen“, ist Stephanie Steinert überzeugt. Die Erstausstattung samt geliebter Heißluftfritteuse sowie Umzugswagen hat die siebenfache, gut vernetzte Mutter bereits organisiert. Doch trotz aller Vorfreude mischt sich auch ein wenig Wehmut in den bevorstehenden Abschied, „schließlich haben wir ein halbes Jahr gut auf engem Raum zusammen gewohnt, haben Ausflüge gemacht, zig Formulare ausgefüllt und diverse Ämter aufgesucht. Das hat uns verbunden. Es ist eine Freundschaft entstanden“, sagt Stephanie Steinert. Als Last haben sie „die sehr rücksichtsvollen Ukrainerinnen“ nie empfunden. Sie ist überzeugt, dass sie diese Familie weiterhin lange begleiten wird, „weil ich es möchte und weil es mir Freude bereitet“, sagt Steinert.
Doch bevor die drei Frauen samt Hund ausziehen, werden sie an der langen Familientafel noch einmal zusammenkommen. Zum Abschied will Stephanie Steinert Borschtsch auftischen, ein Suppe nach einem Rezept aus der ukrainischen Heimat. Den, so sagt die 13-jährige Victoriia, vermisse sie in Deutschland am meisten.