Reinbek. Das Fachwerkhaus an der Bahnhofstraße ist eines der ältesten Reinbeks. Hier wohnt ein Spediteur, der selbst noch nie umgezogen ist.
Er ist ein Profi in Sachen Umzug: Denn der Reinbeker Adolph Niemann (84) war Spediteur. Selbst ist er in seinem Leben allerdings noch nie umgezogen. Seit seiner Geburt im Krankenhaus St. Adolf-Stift „bei Schwester Klara“, wie er sagt, lebt er in seinem Elternhaus an der Bahnhofstraße 21 – mitten im Reinbeker Stadtzentrum.
„Und ich wollte hier auch nie weg“, erzählt der Senior. „Ich habe alles hier erlebt: meine Kindheit in der Kriegszeit, die Jugend in der schlechten Zeit, dann haben wir geheiratet, ich habe die Spedition übernommen, unsere Kinder sind hier groß geworden, die sieben Enkel haben hier gespielt, schließlich haben wir vor 30 Jahren den Hof als Parkplatz an die Haspa verpachtet. Aber wir sitzen im Sommer immer noch hier draußen unter dem schattigen Carport.“
Seit 84 Jahren lebt Aldolph Niemann in dem Fachwerkhaus in Reinbek
„Wir haben es so schön hier“, sagt Karin Niemann (84). „Die Leute sind so nett: Neulich hat uns eine Haspa-Kundin Kuchen gebracht und einer hat uns umarmt und gesagt: ,Ihr seid meine Lieblings-Reinbeker.’ Auch die Optikerin kommt gern vorbei, klönt mit uns, und sie hat uns sogar etwas aus dem Urlaub mitgebracht.“ Der Hof ist auch heute noch Schauplatz der sommerlichen Familienfeste.
Wenn er vom Reinbek seiner Kindheit und Jugend erzählt, nennt Adolph Niemann keine Straßennamen, sondern die Namen der Menschen, die dort gewohnt haben oder ein Geschäft hatten. „Der Hausschlachter Rump wohnte da bei Mielke gegenüber gleich hinter Radtke“, sagt er beispielsweise. Reinbekerinnen und Reinbeker späterer Generationen lässt der 84-Jährige so etwas ratlos. Aber schnell wird klar: Damals war Reinbek überschaubar, man kannte sich. Jeder wusste, wo wer wohnte.
Schon im späten 19. Jahrhundert gab es hier ein Fuhrunternehmen
Wie alt das Fachwerkhaus ist, weiß niemand genau. „Wir sagen immer, so etwa 250 Jahre“, erklärt der Eigentümer. „Meine Großeltern hatten es von Jahnckes gekauft. Jahnckes wohnten in einer Villa, etwa dort, wo heute der Festsaal des Sachsenwald-Forums ist.“
Schon im späten 19. Jahrhundert gab es hier ein Fuhrunternehmen mit Ausspann. Adolph Niemanns Mutter, Martha Alwine Niemann, führte die Spedition lange allein. Denn ihr Mann Adolph war im Zweiten Weltkrieg in einem Lazarett in der heutigen Ukraine umgekommen. Adolph war damals drei oder vier Jahre alt. Dennoch verlebte er mit seiner älteren Schwester Ilse eine behütete und unbeschwerte Kindheit an der Bahnhofstraße.
Kriegsende 1945: Ein britischer Offizier beschlagnahmt das Büro
An das Kriegsende im Mai 1945 erinnert er sich genau: „Die Briten fuhren die Bahnhofstraße hinauf“, erzählt er. „Wir saßen im heutigen Fernsehzimmer beim Kaffeetrinken, als es klopfte.“ Ein britischer Offizier stand vor der Tür und bat um Einlass. Er inspizierte die Räume und beschlagnahmte das Büro im hinteren Teil des Gebäudes. „Sie hatten dort ihre Station und stellten Wagen in der Einfahrt ab“, erzählt der Hausherr. „Eigentlich waren sie aber immer sehr höflich.“
Voll wurde es in dem schmucken Fachwerkhaus dennoch: Während des Krieges zog die Haushaltshilfe, „de Köksch“, Elli Fratzke aus Schwarzenbek mit ein. Sie war sonst immer mit dem Rad zur Arbeit gekommen. Und das Ehepaar Eggert aus Schlesien kam ebenfalls mit unter.
„Vater Eggert hielt auch Hühner, für die er hinten im Schuppen einen Stall gebaut hatte, damit sie kein Marder holt“, erinnert sich Adolph Niemann. Dort standen auch die ein bis zwei Pferde. Ebenso gehörte immer ein Hund zum Haushalt: Zuerst Schäferhund Lux, später Chow-Chow Ajax. Noch später folgten Pudel Purzel und Cocker Spaniel Gritta.
Mit den Micky-Maus-Heften zur Nachbarstochter Karin
„Der Chow-Chow hat mich einmal gebissen“, erinnert sich Karin Niemann. Sie war mit ihren Eltern Irma und Richard Tamm sowie Bruder Gerd von Bergedorf in das Haus nebenan gezogen, als sie 14 Jahre alt war. „Ajax hat immer den Nonnen vom Adolf-Stift aufgelauert“, berichtet Adolph Niemann. „Entweder hat er sie gebissen oder ihnen das Brötchen gemopst.“
Seine Frau hat noch andere Erinnerungen an ihre Jugend: „Du bist dann mit Deinen Micky-Maus-Heften zu uns gekommen“, sagt Karin Niemann. „Aber ich musste erst abwaschen, und Du musstest warten.“ Adolph Niemann erinnert das etwas anders: „Ich habe doch eher Gerd besucht. Die Comic-Hefte konnten wir neu für 50 Pfennig an einer Bude am Völckers Park kaufen. Wenn wir sie zurückgaben, bekamen wir zehn Pfennig.“
Auch an eine frühere feste Freundin kann er sich nur vage erinnern. „Das ist doch alles schon so lange her“, sagt er.
Beide gingen auf die Grone-Handelsschule in Hamburg, doch ansonsten zunächst getrennte Wege. Adolph Niemann volontierte bei der Spedition Klingenberg. „Ich war zuerst zu schmächtig und musste deshalb zunächst ins Büro.“ Danach absolvierte er seinen Wehrdienst – die einzige Zeit, in der er nicht in Reinbek wohnte.
Beim Tanz auf dem Reinbeker Schützenfest funkte zwischen Karin und Adolph
Beim Tanz auf dem Reinbeker Schützenfest funkte es schließlich doch zwischen den beiden, und Karin und Adolph Niemann heirateten über den Nachbarszaun. Von der Hochzeitsreise der beiden nach Paris, bei der sie die Super-8-Kamera wie eine Dashcam vorn hinter die Frontscheibe stellten, gibt es interessante Zeitzeugendokumente.
Karin schmiss fortan nicht nur den Haushalt mit bald drei Kindern, Cornelia, Alexander und Christian, sondern auch das Büro der Spedition mit zwei angestellten Fahrern und drei Lkw. Das Pferdefuhrwerk und der Kohlenhandel hatten sich da bald wegen mangelnder Nachfrage erledigt. Die hölzernen Schuppen auf der Rückseite des Hofes ließen die Niemanns Mitte der 1970er-Jahre abreißen. Seitdem parkten die Lkw einfach auf dem Hof.
Bei den Familienfesten mit mittlerweile sieben Enkeln, neuerdings auch einer Urenkelin, Geschwistern, Nichten und Freunden geht es auch heute noch hoch her: Im Winter ist es schon vorgekommen, dass fremde Menschen vorn an der Tür des schmucken Fachwerkhauses geklingelt haben, weil sie mit Blick in die hell erleuchteten Fenster dachten, es handele sich um eine Kneipe, wie das Paar lachend erzählt.
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Vom Vorderzimmer aus Reinbeks Bahnhofstraße genau im Blick
In der Wintersaison sitzen sie am liebsten am Esstisch im Vorderzimmer und haben dabei „ihre“ Bahnhofstraße fest im Blick: Sie sehen genau, wer gerade bei der Sparkasse Holstein zum Geldabheben war oder in der Buchhandlung Erdmann schnell noch ein Geschenk ergattert hat, wer zum Bahnhof geht oder von dort kommt.
Die Kinder sind alle ihre eigenen beruflichen Wege gegangen. Deshalb ließ Adolph Niemann den Betrieb seiner Spedition 2004 auslaufen und ging mit 66 Jahren in Rente. Nur einen Anhänger behielt er noch. Denn bei Umzügen innerhalb der Familie war er als Profi stets ein gefragter Berater – obwohl er in seinem Leben doch nie umgezogen ist.