Bad Oldesloe. Die massive Inflation trifft die Gesellschaft hart – auch Menschen, die immer genug Geld hatten. Lage in Stormarn besonders dramatisch.

Man stelle sich eine Familie vor. Da sind Mutter, Vater und zwei Kinder. Sie ist Bankkauffrau, er Polizist. Vor einigen Jahren hat das Paar ein Haus gekauft, zahlt aktuell den Kredit ab. Finanziell musste die Familie sich nie große Sorgen machen, hatte sich ein Polster angespart, konnte in den Urlaub fahren, hochwertige Lebensmittel kaufen, sich hin und wieder etwas Größeres leisten. Wenn das Auto kaputtging oder andere ungeahnte Ausgaben anstanden, war das kein Weltuntergang.

Doch: Seit ein paar Jahren ist das anders. Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und weitere Faktoren haben zu immensen Preissteigerungen geführt, die einige Gruppen besonders stark zu spüren bekommen. Und: Auch die klassische Mittelschicht, zu der besagte Familie zählt, kommt durch die Inflation immer häufiger in finanziell prekäre Lagen, kämpft mit Armut und Schulden und sucht Rat bei der Schuldnerberatung.

Inflation: Armut und Schulden treffen immer öfter auch die Mittelschicht

Das hat die Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Bad Oldesloe bekannt gegeben. „Wir beobachten, dass wir zunehmend Klienten aus der Mittelschicht beraten“, sagt Leiterin Ute Lehmann, die gemeinsam mit Beraterin Silke Moseke und Anette Schmitt, Geschäftsführerin des Awo-Kreisverbandes Stormarn, den Jahresbericht 2023 präsentiert hat – unter dem bezeichnenden Titel „Die Welt steht Kopf“.

Neu sei, dass vor allem die untere Mittelschicht durch die Preissteigerungen immer öfter in Notlagen gebracht werde. „Das Problem ist, dass die Preissteigerungen fast die gesamten Lebenshaltungskosten betreffen und damit Bereiche, die man nicht eliminieren kann“, sagt Lehmann. Es gehe nicht um den Urlaub, den man streichen kann, sondern um Verträge, die man nicht kündigen kann: „Es sind Heizkosten, Stromkosten, Lebensmittel“, so Lehmann. „Dem kann man nicht ausweichen.“

Zahlen auf hohem Niveau: 2023 hat die Schuldnerberatung 421 Anfragen bearbeitet

Je weniger Geld, desto dramatischer die Lage. Menschen mit geringem Einkommen und Bürgergeldempfänger leiden stark. Lehmann: „Für Bürgergeldempfänger sind besonders die hohen Strompreise schlimm, weil diese aus dem Regelsatz bezahlt werden müssen.“ Teilweise erlebe sie es, dass ihre Klienten Lebensmittel im Internet auf Raten kaufen, weil das Geld für den Monat nicht ausreicht.

2023 hat die Schuldnerberatung der Awo 421 Anfragen bearbeitet, 344 wurden aus den Vorjahren übernommen, 79 kamen neu dazu. 1080 Beratungsgespräche wurden geführt. „Die Zahlen bewegen sich auf einem gleichbleibend hohen Niveau“, sagt Lehmann. 2020 waren es 431 Anfragen gewesen. Die meisten kamen aus Bad Oldesloe (102), gefolgt von Ahrensburg (78) und Bargteheide (27).

Schuldnerberatung in Gefahr? Finanzierung von Land und Kreis ist unsicher

Was besonders dramatisch ist: Schuldnerberatungen scheinen aktuell wichtiger denn je zu sein. Doch weil auch sie von den enormen Preissteigerungen getroffen sind und es in Sachen Finanzierung durch das Land Schleswig-Holstein und den Kreis Stormarn große Fragezeichen gibt, sind die Angebote in Stormarn – neben der Einrichtung in Bad Oldesloe gibt es in Glinde eine Beratungsstelle der Sönke-Nissen-Park Stiftung – in Gefahr.

Wie berichtet, bangen die Schuldnerberatungen um ihre Existenz. Ende Januar hatte die Diakonie Schleswig-Holstein, die Träger von 18 Schuldnerberatungsstellen ist, in einem öffentlichen Brandbrief Alarm geschlagen. Darin forderte der Wohlfahrtsverband dringend mehr Geld vom Land. Hintergrund ist die hohe Zahl an Ratsuchenden bei zugleich steigenden Betriebs- und Personalkosten. Die Inflation macht auch vor Schuldnerberatungen nicht Halt. Außerdem sorgen Tariferhöhungen für Kostensteigerungen.

Awo fürchtet, dass Schuldnerberatung künftig weniger Geld vom Land bekommt

Die Insolvenz- und Schuldnerberatungsstelle der Awo in Bad Oldesloe hat 2023 genau 293.378 Euro bekommen, davon 148.428 Euro vom Kreis Stormarn, 134.500 Euro von Land Schleswig-Holstein und 10.450 Euro vom Sparkassen- und Giroverband. Problem: „Das Land hat seinen Haushaltsplan für 2024 noch nicht veröffentlicht. Wir wissen nicht, welche Mittel wir zu erwarten haben“, sagt Anette Schmitt. Dadurch, dass auch das Land sparen müsse, fürchtet die Awo, dass es zu Kürzungen kommen könnte.

Das ist aber nicht die einzige Baustelle. Schmitt: „Wir sind beunruhigt, weil der Kreis Stormarn im Herbst entschieden hat, die Leistungen für beide Schuldnerberatungsstellen neu auszuschreiben und die Verträge mit den Trägern zu beenden.“ Das habe es zuvor noch nie gegeben. Konkret bedeutet das, dass sich die Awo nach der zu erwartenden Kündigung neu in der Ausschreibung bewerben muss. „Der Kreis legt die Bedingungen fest. Die kennen wir aktuell noch nicht und wissen, nicht, ob wir sie erfüllen können“, so Schmitt.

Schuldnerberatung in Bad Oldesloe berät Klienten kostenlos seit 37 Jahren

All diese Zustände führen dazu, dass die Schuldnerberatung der Awo, die seit 37 Jahren besteht, um ihre Existenz bange – worunter künftige Klienten leiden würden. Die Beratung ist kostenlos, hat seit 1987 genau 14.619 Menschen in Notlagen unterstützt. Die aktuelle Situation bringe eine große Unsicherheit mit sich, die Leistungsfähigkeit sei gefährdet. „Dabei ist gerade Kontinuität für die Klienten so wichtig“, sagt Beraterin Silke Moseke.

Würde der Kreis die Leistungen, davon geht die Schuldnerberatung aktuell aus, alle paar Jahre neu ausschreiben, hieße das, dass die Awo auch nur befristete Arbeitsverträge anbieten könnte. Lehmann: „Das ist deshalb ein Problem, weil der Fachkräftemangel in der Schuldner- und Insolvenzberatung ohnehin ganz dramatisch ist.“

Warum hat der Kreis Stormarn die Leistungen neu ausgeschrieben?

Bei Gerd Prüfer, der bis zum 1. April Vorsitzender des Sozial- und Gesundheitsausschuss war, nachgefragt, sagt er: „Die Schuldnerberatungen sind uns sehr wichtig, und es steckte keineswegs eine böse Absicht dahinter.“ Grund für die Entscheidung sei gewesen, dass es sich beim bestehenden Vertrag um einen Altvertrag handele, in dem immer wieder viele Korrekturen gemacht worden seien.

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Prüfer: „Wir haben als Kreis eine gewisse Kontrollaufgabe und müssen dafür sorgen, dass alles richtig ist. Hätten wir den Vertrag so laufen lassen, hätte die Kommunalaufsicht ihn womöglich irgendwann kassiert.“ Es bestehe ein Interesse, die Zusammenarbeit mit den Trägern fortzusetzen. „Wir sind aber in der Pflicht, rechtsstaatlich zu handeln und eine Ausschreibung zu machen“, sagt Prüfer. Dass ein eventueller neuer Vertrag eine Laufzeit von einigen Jahren haben würde, sieht Prüfer nicht als Problem: „Es gibt eine Option auf Verlängerung.“

Schuldnerberatung hofft, dass Kreis Entscheidung überdenkt

Dass der Kreis Interesse an den Schuldnerberatungen habe, bezweifeln die Verantwortlichen von der Awo auch nicht. Schmitt: „Wir vermuten aber, dass ein Nicht-Wissen über die Bedeutung der Wirkung zu der Entscheidung geführt hat.“ Sie und ihre Kolleginnen hoffen, dass der Kreis seine Entscheidung überdenkt. Den Jahresbericht haben sie an alle Mitglieder des Sozial- und Gesundheitsausschusses geschickt.

Ute Lehmann: „Nicht nur die Klienten profitieren von der Schuldnerberatung, sondern auch die Gesellschaft insgesamt. Wir tragen dazu bei, dass Leute wieder am wirtschaftlichen Leben teilnehmen. Schuldnerberatungen sind also im Grunde auch ein Einsparangebot.“