Reinfeld. In der Versuchsanlage testen Wissenschaftler der TH Lübeck, wie sich Reste von Arzneien und Chemikalien aus Abwasser entfernen lassen.

Duschgel, Geschirrspültabs, Waschmittel und Schmerztabletten – all diese Dinge gehören in so ziemlich jedem Haushalt zum Alltag. Doch was das Leben an der einen Stelle leichter macht, wird an einer anderem zum Problem: Überreste der Produkte gelangen als sogenannte Spurenstoffe ins Abwasser. Und von dort in Flüsse und Seen und somit potenziell wieder in die Nahrungskette und in das Trinkwasser.

Um das zu verhindern, forschen Wissenschaftler der Technischen Hochschule (TH) Lübeck in Reinfeld an neuen Methoden, wie sich die Substanzen aus dem Abwasser entfernen lassen. Auf dem Gelände des Klärwerks der Stadtwerke an der Hamburger Chaussee betreibt die Hochschule eine Versuchsanlage mit dem Ziel, eine Lösung für das Spurenstoff-Problem zu finden.

Wissenschaftler entwickeln in Reinfeld Methoden für das Klärwerk der Zukunft

Sechs Wissenschaftler forschen in der Einrichtung, die an das Labor für Siedlungswasserwirtschaft und Abfalltechnik der TH angegliedert ist. Studenten des Bau- und Umweltingenieurwesen, sowie internationale Masterstudierende des Water Engineering absolvieren in Reinfeld ihre Praktika, rund zehn von ihnen schreiben dort jedes Jahr ihre Abschlussarbeit.

„Der Standort hat den großen Vorteil, dass wir echtes Abwasser zur Verfügung haben“, sagt Kai Wellbrock, Diplom-Bauingenieur und Leiter der Versuchsanlage. Zusätzlich profitieren die Wissenschaftler von der Verbindung zur Praxis, denn das echte Klärwerk liegt direkt nebenan. Zu der 2007 in Betrieb genommenen Anlage gehört auch eine moderne Online-Analytik, die es den Forschern erlaubt, die untersuchten Prozesse im Labor detailliert zu beobachten und auszuwerten.

Jeden Tag gelangen Hunderte Chemikalien in das Abwasser

Ein Kubikmeter Abwasser fließt in der Stunde durch die etwa einen mal einen Meter großen Klärbecken der Versuchsanlage. „Das entspricht ungefähr dem Verbrauch von 100 Einwohnern“, sagt Wellbrock. Die Außenstelle der TH ist damit wohl das kleinste Klärwerk im Land. „Die derzeitige Anlage entspricht technisch dem Stand der 1990er-Jahre, die vorrangig der Minimierung des Nährstoffgehalts im Abwasser zum Schutz der Gewässer dient“, erklärt Wellbrock.

Das Versuchswerk gleicht damit dem Großteil der fast 800 kommunalen Abwasserwerke in Schleswig-Holstein. Nur eben im Miniaturformat. Der derzeitige Stand der Technik reiche nicht aus, um die Spurenstoffe aus dem Abwasser zu entfernen, sagt der Wissenschaftler. Hunderte von Chemikalien ließen sich finden, die täglich über Toiletten, Duschen, Waschmaschinen und Waschbecken in die Kläranlagen gespült werden, darunter Arzneimittelrückstände, Weichmacher und Korrosionsschutzmittel.

Forscher fanden Schmerzmittel, Diabetes-Medikamente und Antibiotika

In einem Projekt haben die Wissenschaftler an 54 Kläranlagen im Land untersucht, welche Spurenstoffe in die Gewässer abgelassen werden. Einer davon ist das Schmerzmittel Diclofenac. Die Analyse zeigt, dass täglich 0,361 Milligramm pro Einwohner in die Flüsse und Seen gelangen. „Plakativ gesagt, leitet eine Kläranlage, an die 10.000 Menschen angeschlossen sind, jeden Tag etwa 150 Tabletten Diclofenac direkt in die Gewässer“, sagt Wellbrock. Und das sei nur ein Stoff.

Die Versuchsanlage der Technischen Hochschule Lübeck liegt auf dem Gelände des Reinfelder Klärwerks an der Hamburger Chaussee.
Die Versuchsanlage der Technischen Hochschule Lübeck liegt auf dem Gelände des Reinfelder Klärwerks an der Hamburger Chaussee. © Filip Schwen

Auch weitere Arzneien konnten die Forscher im Abwasser nachweisen, darunter das Antiepileptikum Carbamazepin, das Schmerzmittel Ibuprofen, diverse Diabetes-Medikamente, Rückstände von Antibiotika und Röntgen-Kontrastmittel sowie Beta-Blocker zur Behandlung von Bluthochdruck. Dazu kommen Tenside, die unter anderem in Flammschutzmitteln und der Beschichtung von Hochglanzpapier zum Einsatz kommen, und der Weichmacher Bisphenol-A, der unter anderem in PVC enthalten ist. Auch in zahlreichen weiteren Alltagsgegenständen fänden sich Spurenstoffe, die zum Teil in das Abwasser gelangten und damit problematisch sein könnten, so Wellbrock.

Für die meisten Spurenstoffe gibt es bislang keine Grenzwerte

Die große Herausforderung bestehe darin, dass die meisten der Substanzen sich nicht biologisch abbauen lassen. „Deshalb stoßen vorhandene Kläranlagen mit ihrem dreistufigen Reinigungsverfahren, das vor allem auf der biologischen Zersetzung von Schadstoffen durch spezielle Bakterienstämme basiert, an ihre Grenzen“, erklärt der Wissenschaftler. Die Forscher der TH Lübeck setzen deshalb auf eine vierte Klärstufe.

Die Auswirkungen der Spurenstoffe auf Mensch und Natur sind teilweise nur oberflächlich bekannt. „Besonders was die Wechselwirkungen zwischen diesen Substanzen anbelangt, wissen wir noch wenig“, sagt Wellbrock. Unstrittig sei, dass sie alle im weitesten Sinne schädlich sind, entweder indem sie direkt eine toxische Wirkung auf die Gewässer und das Ökosystem entfalteten, oder aber langfristig, indem sie etwa das Risiko für Krebserkrankungen erhöhten. „Dennoch gibt es für die meisten dieser Stoffe bislang in der Europäischen Union keine Grenzwerte“, sagt Wellbrock.

Die Hälfte aller Kläranlagen muss in absehbarer Zeit nachgerüstet werden

Der Experte geht allerdings fest davon aus, dass diese in den nächsten Jahren kommen werden. „Dann haben wir ein großes Problem“, sagt Wellbrock. Seiner Einschätzung zufolge müsste rund die Hälfte aller Kläranlagen in Schleswig-Holstein nachgerüstet werden, um etwaige Grenzwerte für Spurenstoffe einhalten zu können. Welche Methoden allerdings sinnvoll und effizient an bestehenden Anlagen eingesetzt werden können, sei noch unklar, auch deshalb die Forschung auf dem Gebiet so wichtig. Das sieht auch das Land so und fördert das Projekt in Reinfeld mit 750.000 Euro.

Besonders vielversprechend ist für Wellbrock derzeit das Verfahren der Ozonierung, die Behandlung des Abwassers mit dreiwertigem Sauerstoff. „Allein wird das aber wahrscheinlich nicht ausreichen, es wird auf eine Kombination mit physikalischen Methoden herauslaufen“, sagt er. Getestet werde derzeit unter anderem der Einsatz von Aktivkohle sowie eine spezielle Filtermembran. Doch bis es so weit ist und die Verfahren wirklich an bestehenden Anlagen implementiert werden können, wird es, so schätzt Wellbrock, noch einige Jahre dauern.

Sehr viele kleine Werke erschweren den Klärprozess

Und das hat auch strukturelle Gründe. „Die vielen, sehr kleinen Kläranlagen in Schleswig-Holstein stellen eine Herausforderung dar“, sagt der Experte. „Die Anlagen sind in kommunaler Hand, mit dem Ergebnis, dass jedes Dorf sein eigenes Klärwerk hat“, erklärt Wellbrock. Diese Hoheit wollten viele Kommunen ungern abgeben.

„Es ist deutlich einfacher, größere Mengen Abwasser zu reinigen“, denn dann liefen die chemischen und biologischen Prozesse um ein Vielfaches stabiler und effizienter, so der Wissenschaftler. Die Forscher arbeiten deshalb derzeit auch an speziellen Modulen zur Nachrüstung kleinerer Anlagen. Wann ein solches Modell marktreif sein könnte, ist noch nicht abzusehen. Es bleibt viel zu tun für Wellbrock und sein Team.