Rausdorf. An Aufhören war bei Target nie zu denken. Annette Nehberg-Weber sagt: „Rüdiger wäre mächtig stolz auf sein Target-Team.“
Als Rüdiger Nehberg am 1. April 2020 im Alter von 84 Jahren starb, da schrieb das Hamburger Abendblatt in seinem Nachruf vom „Abschied von einem realen Superhelden“. Ziemlich passend erscheint das, wenn man auf das Lebenswerk des „Sir Vival“ blickt, der bis zuletzt im Familien-Anwesen in der Rausdorfer Mühle in Stormarn lebte. Der Aktivist und Menschenrechtler widmete sein Leben der Aufgabe, anderen zu helfen. Seine einst aus Abenteuerlust unternommenen Reisen in die entlegensten Orte der Welt führten ihn zu seinem unermüdlichen Einsatz für das Gute.
Rüdiger Nehberg und seine Frau Annette gründeten die Organisation Target
Gemeinsam mit seiner Frau Annette Nehberg-Weber setzte er sich gegen die weibliche Genitalverstümmelung, für indigene Völker und den Regenwald ein. Im Jahr 2000 gründeten sie die Menschenrechtsorganisation Target e.V. Rüdiger Nehberg. Die Liste ihrer Erfolge ist lang. Die Organisation baute zwei Krankenstationen und eine Urwaldklinik im brasilianischen Regenwald, um dem indigenen Volk der Waiãpi eine medizinische Versorgung zu ermöglichen. 2015 eröffnete der Verein nach fünfjähriger Bauzeit am Rande der Danakil-Wüste in Äthiopien eine Geburtshilfeklinik für Mädchen und Frauen.
Außerdem gelang es dem Ehepaar, Beschneidungen an Mädchen in der äthiopischen Afar-Region filmisch zu dokumentieren, um diese Entscheidungsträger zeigen zu können. Mit den schrecklichen Aufnahmen konfrontierten sie die Männer der Afar. Seitdem ist Genitalverstümmelung in der Region verboten. 2009 brachten sie den bekannten Rechtsgelehrten Yusuf al-Qaradawi zu einer Fatwa, einem Rechtsgutachten, das Genitalverstümmelung als gegen den Islam gerichtetes „Teufelswerk“ verdammt. Unzählige Frauen wurden durch das Engagement von Nehberg und seiner Frau gerettet. Und es geht weiter. Mehr als zwei Jahre nach dem Tod des Menschenrechtlers ist an Aufhören nicht zu denken.
„Rüdiger fehlt“, sagt seine Frau Annette Nehberg-Weber
Was hat sich seit dem Tod des Menschenrechtsaktivisten 2020 verändert? „Rüdiger fehlt“, sagt seine Frau Annette Nehberg-Weber. „Das ist privat sehr schmerzlich und auch für Target, weil er ein großer Ideengeber war.“ Dennoch habe er schon vor vielen Jahren für Nachwuchs gesorgt, habe stets Roman und Sophie Weber, Annette Nehberg-Webers Kinder aus erster Ehe, motiviert, bei Target mitzuwirken. „Rüdiger hat immer gesagt: Das ist die Jugend, die muss ran“, so Nehberg-Weber, die in dieser Hinsicht lange Widerstand geleistet hat. „Ich wollte immer, dass die Kinder eigene berufliche Wege gehen.“ Das haben sie auch getan – und doch zog es sie immer wieder zurück zu Target, dem Erbe ihres geliebten Ziehvaters.
Roman und Sophie wuchsen quasi bei den indigenen Völkern auf. „Mit 16 Jahren hat Rüdiger mich mit in den Regenwald genommen“, sagt Roman Weber. „Die Welt, die sich da aufgetan hat, war gigantisch.“ Heute sind er, seine Mutter und seine Schwester die Hauptakteure von Target. Mit vereinten Kräften und einer Menge Tatendrang führen die drei das Vermächtnis ihres Mannes und Ziehvaters fort, bilden zu dritt den Vorstand der Organisation. Die Tochter ist aktuell in Brasilien.
Die Projekte wurden fortgesetzt, auch privat hat die Target-Familie Zuwachs bekommen
„Wir haben einfach weitergemacht“, sagt Annette Nehberg-Weber über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes. Bestehende Projekte wurden fortgeführt und intensiviert. „Wir unterstützen weitere indigene Völker und setzen uns gegen die weibliche Genitalverstümmelung ein“, sagt Nehberg-Weber. Im Februar wurde in Brasilien eine Krankenstation für das Volk Guarani-Kaiowá eröffnet. Mittlerweile kann man dort auf 3296 Behandlungen und 10.319 Einsätze der indigenen Gesundheitspflegerin zurückblicken. Die Huni Kuin sind das dritte indigene Volk, für das Target sich engagiert. Seit Juni haben 105 Familien des Volkes Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Und auch privat hat die Target-Familie Zuwachs bekommen: Roman Weber und seine Verlobte, die deutsch-brasilianische Moderatorin und Fitnesstrainerin Fernanda Brandão, wurden 2022 Eltern ihrer Tochter Aurora. Das Paar hatte sich 2020 durch das gemeinsame Engagement für indigene Völker kennengelernt. Damit tun sie direkt auch etwas für die Natur, denn: „Die Völker im Amazonasgebiet schützen wiederum den Regenwald“, sagt Roman Weber. Aber auch Schwierigkeiten hat es im vergangenen Jahr gegeben, stand doch der Betrieb der Klinik in Äthiopien im Schatten eines bewaffneten Konflikts.
Das Beschäftigtsein hilft, mit der Abwesenheit von Rüdiger Nehberg umzugehen
Auch im Kampf gegen Genitalverstümmelung suche man neue Wege. Kürzlich habe dazu eine Veranstaltung in Kassel mit der somalischen Gemeinde stattgefunden. Der Verein möchte einen Weg zu den Frauen finden, um sie zu schützen. „Mit all den Projekten sind wir rund um die Uhr beschäftigt“, sagt Nehberg-Weber. Schon ihr Mann Rüdiger hatte sein Leben lang nie genug Zeit für all seine Projekte und Ideen. Die sind heute nicht weniger zahlreich. „Ich kümmere mich um so vieles und trotzdem kommen ständig neue Ideen und Gedanken dazu“, so die 63-Jährige. Das Beschäftigtsein erleichtere es ihr aber auch, mit der Abwesenheit ihres Mannes umzugehen.
Doch der Tod von Rüdiger Nehberg war nicht die einzige Herausforderung, mit der Target zu kämpfen hatte: Gerade, als der Gründer gestorben war, breitete sich Corona auf der Welt aus. Das habe auch der Verein zu spüren bekommen. Es war nicht mehr möglich, zu den Projekten zu reisen. „In Zeiten von Krisen wird bei Spenden zuerst gekürzt“, sagt Roman Weber. „Aber wir versuchen gut zu wirtschaften und die Projekte fortzuführen.“
Rüdiger Nehberg: Firma Berding Beton spendet 10.000 Euro an Target
Auf Spenden ist der Verein dringend angewiesen. Hauptsächlich Privatpersonen, aber auch Unternehmen unterstützen Target. Wer spenden möchte, findet auf der Internetseite www.target-nehberg.de alle Informationen. Gerade erst hat der Verein eine Spende in Höhe von 10.000 Euro von der Firma Berding Beton erhalten. „Statt Weihnachtsgeschenke für unsere Kunden unterstützen wir Projekte, die die Welt besser machen“, so Guido Schmidt von Berding Beton.
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„Die Menschen, die uns ihr Geld anvertrauen, sind ein großer Motivator für unsere Arbeit“, sagt Annette Nehberg-Weber. Das ist aber nicht alles, was sie antreibt: „Es ist auch die Verantwortung, die wir spüren, für das, was wir verändern können“, sagt sie. Die Erfolge, die sie zum Wohle der Gesellschaft erzielt hat, geben ihr Recht. „Rüdiger hat immer gesagt: Niemand ist zu gering, die Welt zu verändern“, so Roman Weber. Das scheint sich die Familie zu Herzen genommen zu haben – und macht auch ohne ihren Rüdiger weiter. Fest steht: Was Familie und Verein in den vergangenen Jahren gestemmt haben, kann sich sehen lassen. Annette Nehberg-Weber: „Rüdiger wäre mächtig stolz auf sein Target-Team.“