Rausdorf. Frau des verstorbenen Abenteurers aus Rausdorf führt Organisation mit ihren Kindern fort – und plant neue Projekte.

Abenteurer, Aktivist, Visionär – all das war Rüdiger Nehberg. Über Jahrzehnte hielt „Sir Vival“, der bis zuletzt auf seinem Anwesen in Rausdorf in Stormarn lebte, Deutschland nicht nur mit seinen Abenteuern in Atem, sondern wurde auch zum Vorkämpfer für die Rechte der brasilianischen Ureinwohner und gegen die weibliche Genitalverstümmelung.

Am 1. April starb Rüdiger Nehberg. Doch sein Lebenswerk lebt weiter, in Form seines Vereins Target: Seine Frau Annette Nehberg-Weber führt die Menschenrechtsorganisation jetzt gemeinsam mit ihren Kindern Roman und Sophie.

Target betreibt zwei Krankenstationen und zwei Kliniken

„Alles andere stand nie zur Debatte“, sagt Nehberg-Weber. „Die Menschen, denen wir mit unseren Projekten helfen, zählen auf uns.“ Target betreibt seit 2002 zwei Krankenstationen und eine Urwaldklinik im brasilianischen Amazonas-Regenwald, um dem indigenen Volk der Waiãpi Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Seit 2015 bietet die Geburtshilfeklinik des Vereins am Rand der Danakil-Wüste in Äthiopien Mädchen und Frauen eine Anlaufstelle, die meisten sind Opfer von Genitalverstümmelung geworden.

„Es waren von Beginn an Familienprojekte“, sagt Annette Nehberg-Weber. Gemeinsam mit ihrem Mann hat die gelernte Arzthelferin den Verein Target seit 2000 aufgebaut. 1997 lernte sie den Survival-Experten in ihrer damaligen Heimat Offenburg bei einem Vortrag kennen. „Ich hatte von meinem Bruder ein Buch von Rüdiger geschenkt bekommen.“ Dennoch habe es der Überredung ihres Sohnes bedurft, bevor sie sich entschieden habe, zu dem Vortrag zu gehen.

„Rüdiger und ich, wir waren beide Karl-May-Kinder“

„Ich wusste damals gar nicht genau, was Survival ist“, sagt Nehberg-Weber. Schnell konnte der Abenteurer die Begeisterung der Arzthelferin wecken. „Ich hatte nach dem Vortrag so viele Fragen, dass wir uns auf einen Apfelsaft zusammengesetzt haben“, erzählt Nehberg-Weber. Der gelernte Konditor, der lange ein Geschäft in Wandsbek betrieb, bevor er sich ganz auf die Vereinsarbeit konzentrierte, und die Arzthelferin entdeckten die Unterstützung von Menschen an den abgelegensten Orten der Erde als ihre gemeinsame Passion.

„Wir waren beide Karl-May-Kinder“, sagt Annette Nehberg-Weber mit einem Schmunzeln, „und der Überzeugung, dass man die indigenen Völker, die es noch gibt, schützen muss.“ Es war der Beginn einer Beziehung, die in Medien oft als „kongeniale Partnerschaft“ beschrieben wurde: Der Abenteurer als Gesicht der Organisation, sie als geschickte Organisatorin. „Sie war der Deckel auf meinem kochenden Topf“, schreibt Rüdiger Nehberg über seine Annette in seiner posthum erschienenen Autobiografie. Die Arzthelferin brachte Roman und Sophie mit in die Beziehung.

Verein finanzierte Konferenz islamischer Rechtsgelehrter

Im November 2006 organisierte und finanzierte Target eine Konferenz führender islamischer Rechtsgelehrter in Kairo, an deren Ende die Teilnehmer die weibliche Genitalverstümmelung zur Sünde erklärten – ein Meilenstein. Die Beschneidung der weiblichen Genitalien ist seit Jahrtausenden vor allem in den muslimischen Ländern Afrikas verbreitet. „Die Eingriffe an den Mädchen werden meist mit Rasierklingen oder Glasscherben unter katastrophalen hygienischen Bedingungen durchgeführt.“ Die Folge seien lebenslange qualvolle Schmerzen und Entzündungen.

„Mein Mann wusste, dass dieser grausamen Praxis nur mithilfe des Islam Einhalt geboten werden konnte“, so Nehberg-Weber. „Männer und damit auch die Gelehrten, bekamen gar nicht mit, was da mit den Mädchen geschieht, das war Frauensache“, sagt sie. Daher zeigten die Nehbergs ihnen Aufnahmen, in denen sie die grausame Praxis dokumentiert hatten. „Die Minuten, als sich die Gelehrten zurückzogen, um zu beraten, kamen uns quälend lang vor“, erzählt Nehberg-Weber heute.

2002 begleiteten die Kinder das Paar in den Urwald

„Als sie rauskamen und die Entscheidung verkündeten, war das ein unfassbarer Glücksmoment, der Moment unseres Lebens. Wir wussten, wie viele Mädchen eine bessere Zukunft haben würden.“ In den ersten Monaten nach dem Tod ihres Mannes sei es herausfordernd gewesen, trotz des Schmerzes die Normalität aufrechtzuerhalten, zumal parallel die Corona-Krise als zweite Bürde hinzugekommen sei. „Aber wir Drei sind ein eingespieltes Team.“ Nehberg-Webers Kinder sind bereits seit mehreren Jahren bei Target aktiv, nach Rüdiger Nehbergs Tod sind sie jetzt seinem Wunsch entsprechend in den Vereinsvorstand gewählt worden.

„Rüdiger hat früh angefangen, uns auszubilden“, sagt Roman Weber. „Wir sind quasi mit den Indigenen aufgewachsen, viele Spielkameraden von damals sind heute Häuptlinge“, so der 35-Jährige. Das erste Mal, dass sie ihre Eltern in den Urwald begleitet hätten, sei 2002 gewesen, ergänzt seine Schwester Sophie. „Ich war zwölf und Rüdiger hat mich zum Spielen zur Häuptlingstochter in die Hängematte gesetzt.“

Sie zweifelten nie daran, dass Nehberg zurückkam

Sophie Weber mit einem Waiãpi-Kind im Arm. Zurzeit betreut sie die Target-Projekte im Amazonas-Regenwald in Brasilien.
Sophie Weber mit einem Waiãpi-Kind im Arm. Zurzeit betreut sie die Target-Projekte im Amazonas-Regenwald in Brasilien. © Target Nehberg e.V.

Ihre Kindheit beschreiben die beiden als „ein einziges Abenteuer“. Sophie Weber: „Wir sind mit den Geschichten von Rüdiger über Dschungel-Expeditionen und Floßfahrten groß geworden, wie andere Kinder mit Märchen, nur dass er das alles wirklich erlebt hatte.“ Gefragt nach ihrer Lieblingserzählung muss die 30-Jährige nicht überlegen: „Als Rüdiger sich in Brasilien unter eine Gruppe von kriminellen Goldsuchern gemischt hat, um verdeckt zu filmen.“ Der Survival-Experte habe aufdecken wollen, welche Verbrechen solche Banden gegen die Ureinwohner des Amazonas verübten.

„Er hat sein Leben riskiert, um diese Aufnahmen zu machen“, sagt Weber. Dagegen seien die Atlantiküberquerungen per Tretboot und Einbaum „fast Normalität“ gewesen, fügt Roman Weber schmunzelnd hinzu. „Es war ein Gesetz, das Rüdiger zurückkommt“, sagt Sophie Weber. Selbst als der Überlebenskünstler 2003 für 25 Tage als verschollen galt, nachdem er sich, fast 70 Jahre alt, ohne Ausrüstung über dem brasilianischen Regenwald hatte abseilen lassen, hätten sie daran nicht gezweifelt.

Nehberg war ein Pionier, der ständig neue Wege einschlug

„Stillstand gab es nicht, Rüdiger war ein Pionier, der stetig neue Wege gegangen ist, um etwas zu verändern“, sagt Roman Weber. Oft hätten er und Sophie ihre Eltern zu den Projekten begleitet. „Es war für mich und meine Schwester nie eine Option, nicht bei Target einzusteigen.“ Dennoch machten die Geschwister zunächst einen Abstecher in die Berufswelt außerhalb der Entwicklungshilfe. „So können wir neue Erfahrungen einbringen“, sagt Sophie Weber.

Sie selbst studierte International Business und International Development Management, ihr Bruder absolvierte eine Ausbildung zum Kaufmann für Grundstücks- und Wohnungswirtschaft. Annette Nehberg-Weber sagt: „Für uns ist es ein Geschenk, dass Roman und Sophie unser Engagement fortführen, aber erwartet haben wir das nie.“ Sie und Rüdiger hätten den Kindern Einiges zugemutet. „Wenig Privatleben, anstrengende Reisen, ständige Spontanität“, sagt sie. „Da waren wir umso glücklicher, dass die Beiden all das nicht abgeschreckt hat.“

Im Amazonas sollen weitere Krankenstationen entstehen

Die Arbeit wollen sich die Drei in Zukunft teilen. „Erst kürzlich haben wir nach jahrelangem Bemühen ein Abkommen mit den brasilianischen Behörden unterzeichnet, um künftig auch andere indigene Völker medizinisch versorgen zu dürfen“, erzählt Sophie. Dafür sollen in naher Zukunft weitere Krankenstationen im Amazonas entstehen.

Doch dazu sei der Verein weiter auf die Unterstützung durch Spenden angewiesen. Zudem solle es weitere Abenteuer-Projekte geben, mit denen der Verein Aufmerksamkeit auf bestimmte Probleme lenken will. Roman Weber: „Die Planungen laufen bereits, lassen Sie sich überraschen.“

Spendenkonto: Sparkasse Holstein, IBAN: DE16 2135 2240 0000 0505 00, BIC: NOLADE21HOL