Hoisdorf. Hoisdorfer Helge Barthel erzählt von den Tagen des Bangens. Für die 16-Jährige war es bereits die zweite Flucht.
Es war eine schier endlose Zeit des Hoffens und Bangens, die Helge Barthel in den vergangenen Tagen durchlebte. Die Stieftochter des Hoisdorfers, die 16 Jahre alte Polina, saß in Kiew fest, während die russische Armee immer weiter vorrückte. Unentwegt verfolgte Barthel die Nachrichten, sah die Bilder von Panzern und von durch Raketenangriffe zerstörten Wohnhäusern.
Barthel pendelte lange zwischen Deutschland und der Ukraine
„Es war schrecklich“, sagt der Hoisdorfer. Erst am vergangen Sonntag hatte das Bangen ein Ende: Helge Barthel konnte seine Stieftochter am Hamburger Hauptbahnhof in die Arme schließen – nach einer viertägigen Odyssee, die die 16-Jährige von Kiew über Lwiw im Westen der Ukraine, Polen und Bautzen nach Hoisdorf führte.
Noch immer kann Barthel kaum begreifen, was geschehen ist. „Ich verfolge die Situation seit Monaten sehr angespannt, aber dass Russland wirklich angreift, habe ich nicht für möglich gehalten“, sagt der Hoisdorfer.
Seit zwei Jahren ist Barthel mit seiner Frau Yuliia, einer Ukrainerin, zusammen. Die beiden haben sich über das Internet kennengelernt. „Ich pendele seit 21 Jahren regelmäßig zwischen Deutschland und der Ukraine“, erzählt er. In der nordostukrainischen Stadt Sumy, die derzeit besonders umkämpft ist, hat Barthel Deutsch unterrichtet.
Die 16-Jährige wollte im Sommer ihren Schulabschluss machen
Dem Land und seinen Menschen fühlt sich der Hoisdorfer tief verbunden. „Umso mehr erschüttert mich, was dort aktuell geschieht“, sagt Barthel. Zunächst führten Yuliia und er eine Fernbeziehung, seit August leben sie gemeinsam in Hoisdorf. „Polina wollte im Sommer noch ihren Schulabschluss in der Ukraine machen und dann nachkommen“, erzählt Barthel.
Die 16-Jährige lebte bei den Schwiegereltern in einem Vorort von Kiew. Ab Sommer wollte sie in Hamburg Informatik studieren. Doch der Krieg warf alle Pläne über den Haufen. „Vom ersten Tag an haben wir versucht, sie da raus zu holen“, so Barthel. Dass die Flucht gelang, verdankt Polina dem Vater einer Freundin, der der 16-Jährigen über Beziehungen einen der umkämpften Plätze in einem Zug von Kiew in den Westen sicherte.
Von Lwiw aus brachte eine kirchliche Hilfsorganisation aus Polen Polina und die Familie der Freundin mit einem Bus ins sächsische Bautzen. Helge Barthel organisierte die Zugverbindung weiter nach Hamburg.
Für die Abschlussprüfung lernte Polina im Bunker
Die dramatischen Tage vor der Flucht hat die 16-Jährige mit ihrer Smartphonekamera dokumentiert. Die Fotos zeigen leere Supermarktregale, einen Jungen, der auf einer Matratze im Luftschutzkeller schläft, dahinter die Katze der Familie in einer Transportbox. Auf einem anderen Bild ist der Kiewer Bahnhof zu sehen. Menschenmassen drängen auf einen Zug zu.
„Wir hatten permanent Angst“, beschreibt Polina die letzten Tage in Kiew. Die 16-Jährige und ihre Mutter möchten nicht fotografiert werden, weil sie die Vergeltung russischer Kräfte für kritische Äußerungen bei einer möglichen Rückkehr in die Ukraine in der Zukunft befürchten. „Immer, wenn die Sirenen heulten, sind wir in den Keller gerannt“, erzählt Polina. Teilweise hätten sie dort auch geschlafen. Auch für die Abschlussprüfung, die nun nicht stattfindet, weil die Schulen geschlossen wurden, lernte die 16-Jährige im Bunker.
2014 floh Polina mit ihrer Mutter aus den Separatistengebieten im Osten
Vor allem die Versorgungslage sei immer schlechter geworden. „Die Regale in den Supermärkten waren leer, die Leute standen in langen Schlangen vor den Geschäften“, erzählt die junge Frau. Für die 16-Jährige ist es bereits die zweite Flucht. 2014 floh die damals Achtjährige mit ihrer Mutter aus der von pro-russischen Separatisten kontrollierten Region Donezk im Osten der Ukraine. „Dort gibt es seit der Machtübernahme keine richtige Regierung, keine Gesetze“, sagt Polina. Mit einigen Koffern mit ein wenig Kleidung zogen sie in einen Vorort von Kiew. Vor einigen Tagen dann in die Wohnung der Tante im Zentrum der Hauptstadt.
„Dort war es noch einigermaßen sicher, während die Außenbezirke schon unter Beschuss waren“, so die 16-Jährige. Am Bahnhof herrsche Chaos. „Alle wollen nach Westen“, sagt Polina. Die Züge seien überfüllt. „Die Leute sitzen auf dem Boden.“ Helge Barthel rät dennoch dringend davon ab, „planlos an die Grenze zu fahren, um jemanden zu abholen.“ Er sagt: „Wer beim Transport helfen möchte, sollte schon vorher Kontakt zu den Flüchtenden aufnehmen, über die Sozialen Medien oder Hilfsorganisationen.“ Denn von Bekannten vor Ort wisse er, dass viele Ukrainer Angst hätten, spontan zu Fremden ins Auto zu steigen.
Barthel wünscht sich mehr Unterstützung für Helfer in Deutschland
Darüber hinaus wünscht sich der Hoisdorfer, dass neben den Spenden für die Menschen im Kriegsgebiet auch die Helfer in Deutschland Unterstützung erhalten. „Es geht vor allem um Sachspenden, etwa ein Fahrrad, aber auch um ein Taschengeld für die Menschen, die hier angekommen sind, damit sie sich etwas kaufen können.“ Denn bis der Aufenthaltsstatus geklärt sei, gebe es keine Sozialleistungen.
„Die Bürokratie ist eine große Herausforderung, gerade für Menschen, die nicht in den Sammelunterkünften unterkommen, wo sich das Bundesamt für Flüchtlinge kümmert, sondern privat“, sagt Barthel. Denn dann müssten die Betroffenen selbst zum Meldeamt gehen und sich um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühen. „Und Termine sind angesichts der aktuellen Lage kaum zu bekommen“, so der Hoisdorfer.
Ob Polina ein Abschlusszeugnis bekommt wird, ist unklar
Insgesamt sei noch Vieles unübersichtlich. Helge Barthel nennt ein Beispiel, das auch andere betreffen wird: „Da es keine Abschlussprüfungen in der Ukraine gibt, ist vollkommen unklar, ob Polina ein Zeugnis bekommt oder hier noch einmal das Abitur machen muss.“ Es ist nur eines von vielen Dingen, die die Familie in den kommenden Wochen klären muss. Zunächst sind die Drei aber überglücklich, wieder vereint zu sein.