Bad Oldesloe. Bei dem Luftangriff der Alliierten sterben mehr als 700 Menschen. Nur acht Tage später endet der Zweite Weltkrieg für die Stadt.
Um 10.25 Uhr ertönt heute vor 75 Jahren Fliegeralarm in Bad Oldesloe. Wie so oft im Zweiten Weltkrieg, wenn die Alliierten Hamburg und andere Städte in Deutschland angreifen. Doch am 24. April 1945, einem klaren Frühlingsdienstag, ist das Ziel ein anderes: Rund 300 Kampfflugzeuge der Royal Air Force werfen ihre tödliche Fracht über dem Oldesloer Bahnhofsviertel ab.
Bürgermeister Kieling übergibt die Stadt kampflos
Im Sekundentakt prasseln 1262 Bomben zu Boden. Die erste schlägt um 10.36 ein, die letzte um 10.54 Uhr. Innerhalb von 18 Minuten sterben mehr als 700 Menschen. 300 Häuser liegen in Trümmern, der Bahnhof ist zerstört. Besonders tragisch: Nur acht Tage später ist der Krieg für Bad Oldesloe zu Ende. Bürgermeister Friedrich Wilhelm Kieling fährt den britischen Panzern mit einem Dolmetscher entgegen und übergibt die Stadt kampflos.
„Der Angriff galt offensichtlich zuallererst dem Bahnhof“, schreibt Hans Joachim Schröder in der Reihe „Stormarner Hefte“. Die Stadt, in der sich neben etwa 9000 Einwohnern rund 6000 Flüchtlinge aufhalten, war ein wichtiger Knotenpunkt zwischen Hamburg und Lübeck, Bad Segeberg, Elmshorn, Schwarzenbek und Ratzeburg.
Der Bahnhofstunnel wurde für viele zur tödlichen Falle
„In mehreren Wellen entluden die Bomber ihre Last über Oldesloe“, notierte ein Chronist. Einige Bomben seien ins Moor gefallen, doch „viel zu viele trafen ihr Ziel, unter anderem den überfüllten Bahnhof, in dem zum Beispiel etwa 200 Wehrmachtshelferinnen und Krankenschwestern Zwischenstation machten“. Die Frauen suchten mit Soldaten, Flüchtlingen und Einheimischen im Bahnhofstunnel Schutz. Der wurde zur tödlichen Falle.
Autor Schröder berichtet aus zwei 1979 und 1988 geführten Interviews mit einem Ehepaar, das den Bombenhagel gemeinsam erlebt hat. Die Landarbeiter waren Mitte Februar 1945 als Flüchtlinge aus Westpreußen nach Bad Oldesloe gekommen und mit weiteren Angehörigen im Umland untergekommen. Eine weitere Zeitzeugin ist eine Frau, die aus Pommern geflohen war.
Kurz nach dem Fliegeralarm kamen die Bomben
Das Landarbeiter-Ehepaar war an jenem 24. April in Bad Oldesloe, um für Bezugsscheine gebrauchte Sachen im Kaufhaus Petersen zu besorgen. Es stand in der langen Schlange, als die Sirenen plötzlich losheulten. „Hat Petersen oder der Verkäufer von Petersen noch durchnummeriert, wie sie so standen, um nach dem Fliegeralarm wieder in der Reihenfolge die Leute zu bedienen“, sagt der Mann, der damals 25 Jahre alt war.
Mit vier, fünf Frauen sei er zunächst auf den Kirchberg gelaufen. „Da hab’ ich gesehen, wie die Flugzeuge die Markierungsbomben abwarfen.“ Sekunden später habe es schon richtig gekracht. „Wir müssen hier weg“, rief der Mann, der bis zu einer Verwundung 1942 an der Russlandfront gekämpft hatte. Seine kleine Gruppe sei etwa 50 Meter in einen Garten gelaufen und habe den ganzen Angriff über eng an einem Abhang gelegen. „Konnte man genau sehen, wenn die Bomben reinfielen in die Gebäude, wie die Balken flogen – wie Streichhölzer in der Luft!“ Später lag ein Granatsplitter in einem halben Meter Entfernung – „groß wie ’ne Hand und noch ganz heiß“.
Tote und Trümmer säumten den Weg nach Hause
Eine Frau mit einem kleinen Jungen sei auf einer Holzbank unter einem großen Baum auf dem Kirchberg sitzen geblieben. Nach dem Angriff sei direkt daneben ein Bombenkrater gewesen. Mutter und Kind waren offensichtlich verschüttet worden.
Die Gruppe habe sich auf den Rückweg nach Hause gemacht, sei am Bahnhof aber nicht mehr vorbeigekommen. Dort knallte es aus einem Munitionszug in alle Richtungen. Deshalb nahm das Ehepaar die Straße nach Pölitz. An der war die Eisenbahnbrücke getroffen worden. Auf dem Weg lagen Betonbrocken und „Tote unter den Trümmern“.
Feuerwehr war drei Tage lang fast durchgängig im Einsatz
Die Frau aus Pommern gehörte ebenfalls zu der Gruppe, die den Angriff an dem Abhang zur Beste überlebte. Sie habe sehr große Angst gehabt, sagt sie 1988 in einem Gespräch – und: „Ich hab’ noch Glück gehabt.“ Nach dem Bombenhagel habe sie „bloß weg gewollt“. Doch in dem Chaos hatte jemand das Fahrrad geklaut, dass sie sich extra für den Tag ausgeliehen hatte. So machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg. Das Bild von der zerstörten Eisenbahnbrücke hat auch die Frau, die damals 29 war, nach 43 Jahren noch vor Augen: „Die toten Menschen, fürchterlich.“
Ähnliche Erinnerungen haben sich einem Ehepaar eingebrannt, das der Historiker Norbert Fischer 1995 interviewte. Der Mann war beim Angriff 15 Jahre alt und die Frau elf. „Wenn man als Kind so viele Tote sieht und auch noch Schulkameradinnen darunter sind, das können Sie nie vergessen. Nie!“, sagt sie. Die Kleinstadt sei gar nicht vorbereitet gewesen, im Unterschied zu Hamburg habe es keine Bunker gegeben. „Jeder rannte in einen Garten, hinter Mauern hat man sich versteckt vor den Bomben.“ Etwa jeder 20. Einwohner kam ums Leben. In der Chronik der Freiwilligen Feuerwehr steht: „Die Wehr war drei Tage lang im Einsatz, um die vielen Toten und Verletzten zu bergen und die zahlreichen Brände zu löschen.“
Bis heute werden immer wieder Blindgänger entschärft
Die Folgen sind bis heute zu spüren. „Es werden immer noch Bomben gefunden“, sagt Kreisarchivar Stefan Watzlawzik. Der bislang letzte Blindgänger kam Ende Juli 2018 bei Baggerarbeiten im Neubaugebiet Claudiussee ans Tageslicht. Für die Entschärfung der hochgefährlichen Zehn-Zentner-Fliegerbombe richtete die Polizei im Umkreis von 500 Metern eine Sperrzone ein. Rund 1200 Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen. Zudem wurde der Bahnverkehr auf der nahen Strecke Hamburg–Lübeck vorübergehend eingestellt.
Für den Kampfmittelräumdienst eine schwierige Aufgabe: Wegen der langen Liegezeit unter der Erde war der Zünder angerostet, dreckig und verkrustet. Eine Explosion hätte ein mindestens vier Meter tiefes Loch erzeugt – und eine gewaltige Druckwelle. „Im Krieg sind viele Menschen nicht an den Splittern der Bomben gestorben, sondern wegen der Druckwellen“, sagte Entschärfer Heinz Kollath. Der Druck könne zum Beispiel eine Lungenembolie auslösen.
2014 wurden zwei Sprengkörper in Bad Oldesloe gefunden
Die Experten rücken immer wieder nach Bad Oldesloe aus. 2014 waren sie zweimal dort: Im August fanden Bauarbeiter eine Bombe mit 500 Kilogramm Sprengstoff an der Ecke Masurenweg/Am Glindhorst. Im Juni war es ein Sprengkörper mit 250 Kilogramm am Stoltenrieden. Beide Male mussten mehr als 2000 Menschen ihre Wohnungen verlassen. Auch Masurenwegschule und Tierheim wurden evakuiert.
Der 2012 im Alter von 87 Jahren gestorbene Arzt Dr. Carsten Hager bezeichnete den 24. April 1945 als „eine Wunde, die niemals heilt“. Seine drei Geschwister Ingrid (19), Dietlinde (17) und Jens (14) starben in der Villa des Onkels am Sülzberg. Die Mutter überlebte, weil sie gerade Milch holte. Der damals 20-jährige Carsten Hager war in russischer Kriegsgefangenschaft und erfuhr erst bei seiner Heimkehr 1946 von der Tragödie. In seiner langen Trauer fand er seinen Weg der Versöhnung: Beim Gedenkgottesdienst zum 50. Jahrestag des Bombardements reichte er einem früheren britischen Bomberpiloten die Hand.
Landrat und 29 Mitarbeiter unter den Opfern
Auch Landrat Rolf Carls kam beim Luftangriff ums Leben. Mit dem 59-Jährigen starben 29 Mitarbeiter im Keller des Präparandeums an der Königstraße, dem Gebäude der Berufsschule.
Als Marineoffizier hatte Carls schon am Ersten Weltkrieg (1914–1918) teilgenommen. Im Zweiten Weltkrieg war er unter anderem maßgeblich an der Besetzung des neutralen Norwegens und Dänemarks beteiligt. Er wurde 1940 zum Generaladmiral befördert. Anfang 1943 entschied sich Hitler für Karl Dönitz als neuen Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und gegen Carls, der aus dem aktiven Dienst ausschied. Im Juni 1943 wurde Carls zum kommissarischen Landrat ernannt. Er leitete den Umzug der Kreisverwaltung nach Bad Oldesloe, nachdem das Stormarnhaus in Wandsbek 1943 durch Luftangriffe zerstört worden war.