Ahrensburg. Anwohner fühlen sich bedroht, haben etliche Strafanzeigen bei der Polizei erstattet. Täter wird allerdings nicht vor Gericht gestellt.
Angst, Wut, Verzweiflung und Ohnmacht: Das sind die Gefühle, die seit vier Jahren das Leben einer Familie aus Ahrensburg bestimmen. So lange wird sie eigenen Angaben zufolge von ihrem Nachbarn bedroht und attackiert. Rund 30 Anzeigen hat Sven Brejora bei der Polizei erstattet. Es geht vor allem um Sachbeschädigungen – um 26 zerstochene Autoreifen, eingeschlagene Scheiben, Farbschmierereien.
Brejora fühlt sich von Behörden im Stich gelassen
Was dem 44-Jährigen aber schlaflose Nächte bereitet, ist etwas anderes: „Der Mann hat meinen Töchtern mehrfach angedroht, sie zu vergewaltigen.“ Die zwölf und 13 Jahre alten Mädchen seien völlig verängstigt. Ihm selbst gehe es nicht anders. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen um das Leben meiner Kinder.“
Sven Brejora fühlt sich von den Behörden im Stich gelassen – von Polizei, Richtern und der Staatsanwaltschaft. Sie alle habe er um Hilfe gebeten, wieder und wieder. Doch passiert sei nichts. Im Gegenteil. „Die Situation ist schlimmer denn je“, sagt der Ahrensburger. Er fragt: „Wer beschützt meine Familie? Wann können wir endlich wieder ein normales Leben führen?“
Ärztin: Voraussetzungen für Unterbringung in Klinik fehlen
Auch andere Anwohner im Westen der Stadt beklagen Sachbeschädigungen: zerstochene Reifen, zerkratzte Autos und beschmierte Hauswände. An einem Tag sei der Mann im Tarnanzug mit geschwärztem Gesicht und einem Messer in der Hand durch die Straße gelaufen, habe geschrien: „Ich mach’ euch alle platt“.
Der Polizei ist der Mann gut bekannt. Die Beamten mussten 2019 zu 16 Einsätzen in seiner Straße ausrücken, neun Anzeigen wurden gegen den Mittdreißiger erstattet. Die Dunkelziffer der Straftaten dürfte hoch sein, denn viele angezeigte Fälle können mangels Beweisen nicht zugeordnet werden.
Sven Brejora holt mehrere Schreiben der Staatsanwaltschaft Lübeck hervor, in denen Identisches zu lesen ist: „Das Verfahren ist eingestellt worden, weil ein Täter nicht ermittelt werden konnte. Weitere Nachforschungen versprechen zurzeit keinen Erfolg.“
Für das Amtsgericht sei der Fall erledigt
Doch selbst wenn der Mann von Ermittlern auf frischer Tat ertappt wird, passiert nach Ansicht der Anwohner zu wenig. Der Grund: Der Verdächtige ist psychisch krank. In einem Gutachten vom 4. August 2019 sei eine vom Gericht beauftragte Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, „dass bei dem Beschuldigten eine schwere psychische Erkrankung vorliege, aufgrund derer er dauerhaft nicht verhandlungs- und nicht schuldfähig sei“, wie Oberstaatsanwalt Dirk Hartmann auf Abendblatt-Anfrage sagt. Gleichzeitig habe die Expertin eine Gefährlichkeit des Mannes nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuches ausgeschlossen. Diese wäre erforderlich, damit das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen kann.
Der jüngste Prozess wurde daraufhin im vergangenen Jahr abgebrochen. Der Fall sei für das Amtsgericht damit erledigt, wie Direktor Michael Burmeister sagt. Die Staatsanwaltschaft hatte damals Anklage wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erhoben. Der Mann soll in seinem Haus Cannabispflanzen gezüchtet haben.
Ahrensburger Anwohner hält am Fenster Wache
Die ständige Sorge um Frau und die drei Kinder habe ihn krank gemacht, sagt Sven Brejora. Fünf Wochen war er zu Jahresbeginn arbeitsunfähig, konnte seinem Beruf als Erzieher in einer Kindertagesstätte nicht mehr nachgehen. Er leide unter Magenproblemen, habe starke Konzentrationsschwierigkeiten. „Ich verliere die Kraft, bin am Ende“, sagt er. Die Erschöpfung ist ihm deutlich anzusehen. „Es macht mich so fertig, wie der Mann über unser Leben bestimmt.“
Um seine Familie zu beschützen, verbringt der Ahrensburger teilweise die Nächte draußen oder hält am Fenster Wache. Um weitere Taten zu verhindern, wie er sagt, „weil das ja sonst niemand tut“. Denn nachts ist die Zeit, zu der ihr Nachbar meistens aktiv werde. Brejora schätzt seinen Schaden auf rund 15.000 Euro. „Wir mussten alles aus eigener Tasche bezahlen, die Versicherung kommt für die Kosten nicht auf.“
Kriminalpolizei sieht keine Gefahr für andere Personen
Anwohner fordern, dass der Mann vom Gesundheitsamt in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen wird. Doch die Hürden für diesen Schritt sind hoch. Er könne nur bei einer „akuten Selbst- und Fremdgefährdung“ angeordnet werden, heißt es aus der Kreisverwaltung. „Reifen zerstechen und lästig sein reicht nicht.“ Der Betroffene müsste von den Mitarbeitern des Gesundheitsamtes beispielsweise dabei angetroffen werden, wie er wild mit einem Messer in der Öffentlichkeit herumfuchtele.
Die Freiheitsrechte des Einzelnen seien ein hohes Gut, das gehe manchmal zulasten anderer und sei für Außenstehende teils nur schwer zu verstehen, sagt ein Verwaltungsmitarbeiter auf Abendblatt-Anfrage. Er verweist auf Paragraf 7 des Psychisch-Kranken-Gesetzes, an das sich die Behörde halten müsse.
Staatsanwalt führte sechs Verfahren gegen den Mann
Auch die Kriminalpolizei in Ahrensburg schätzt den Mann offenbar als nicht gefährlich genug für eine Zwangseinweisung ein. „Aufgrund unserer Erkenntnisse und der bisherigen Tatbestände sehen wir keine Gefahr für andere Personen“, sagt Kripo-Chef Ralf Lorenzen. Bei den Sachbeschädigungen handele es sich um „einfache Straftaten“. Es sei nachvollziehbar, dass die Situation für die Anwohner sehr belastend sei, aber die Ängste gingen über das objektiv Nötige hinaus. Bei den Bedrohungen spiele auch die Ernsthaftigkeit eine Rolle. Die Zahl der von dem Mann verübten Straftaten sei seit Jahren konstant.
Die Staatsanwaltschaft hat eigenen Angaben zufolge im Jahr 2019 sechs Verfahren gegen den Mann geführt. Dabei sei es um zwei Graffiti-Schmierereien an einem Stromkasten, das Zerkratzen einer Eingangstür sowie der Tür eines Lokals sowie dreimal um zerstörte Autoreifen gegangen. In einem weiteren Fall werde dem Mittdreißiger Beleidigung vorgeworfen. „Grundsätzlich gilt bei Personen, die – wie hier – nicht schuldfähig sind, dass die Staatsanwaltschaft nicht ermächtigt ist, die öffentliche Klage zu erheben“, sagt Oberstaatsanwalt Dirk Hartmann. Die Behörde könne bei schwerwiegenden Straftaten eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beantragen, soweit die Voraussetzungen dafür gegeben seien. Das sei hier aber nicht der Fall. Trotzdem gebe es einen regelmäßigen Austausch zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei, betont der stellvertretende Sprecher der Staatsanwaltschaft Lübeck.
Das Rathaus kann Anwohnern nicht helfen
Sven Brejora hat beobachtet, dass bestimmte Situationen den Mann offenbar zu neuen Straftaten reizen. Dazu zählten Vorladungen der Polizei. Diese finde er häufig zerrissen auf der Straße, wenig später seien Autoreifen in der Umgebung zerstochen. „Wir versuchen, konfliktschonend zu agieren, um den Beschuldigten nicht zu weiteren Taten zu reizen“, sagt Lorenzen. Deshalb verzichte die Polizei auch auf die von Anwohnern geforderten vermehrten Streifenfahrten im Umkreis. „Das wäre eher kontraproduktiv, würde ihn vermutlich zu mehr Straftaten verleiten.“
Das Rathaus kann eigenen Angaben zufolge nichts für die Anwohner tun. „Wir haben in solchen Fällen keine Einflussmöglichkeiten“, sagt Sprecher Fabian Dorow. Für eine Zwangsräumung gebe es keine Veranlassung, denn der Mann habe einen gültigen Mietvertrag. Letztlich könne jeder in seiner Wohnung so leben, wie er wolle.
Weißer Ring: Opfer befinden sich in einem Teufelskreis
Für die Opfer sei die Situation „zerstörend und ein Teufelskreis“, sagt Rita Funke, Leiterin der Außenstelle Stormarn des Weißen Ringes. Weil ihre Strafanzeigen vermeintlich ohne Konsequenz für den Täter blieben, seien sie darauf fixiert, weiteres belastendes Material gegen den Mann zu sammeln. Sie warteten praktisch auf neue Taten. „Das befeuert den inneren Konflikt inklusive der Angst“, sagt Funke. „Wie soll sich jemand aus der Opferrolle befreien, wenn er immer wieder damit konfrontiert wird?“ Die ganze Nachbarschaft sei sozial aus den Fugen geraten, ein Angstumfeld entstanden.
Das Abendblatt hatte erstmals vor einem Jahr über den Fall berichtet. Seitdem sei die Situation noch schlimmer geworden, sagt Sven Brejora. Er hat Überwachungskameras auf seinem Grundstück installiert. In einem Ordner hat er etliche Dokumente und Bilder zu dem Fall gesammelt.
Sechs Scheiben wurden zerkratzt
Bei einem Spaziergang durch den Stadtteil lässt sich eine Farbspur bis zum U-Bahnhof Ahrensburg West verfolgen. Sämtliche Stromkästen sind mit Graffiti-Tags beschmiert, die Anwohner dem polizeibekannten Mann „ohne Zweifel“ zuordnen. Auch Garagen, Müllcontainer, Straßenlaternen und Schilder wurden besprüht. Die gleichen Kürzel wurden auch in Scheiben von Bushaltestellen-Wartehäuschen eingeritzt.
Die Fassade der Ahrensburger Frühstücksstube am U-Bahnhof West ist im Januar mit Farbe besprüht worden. Auch dort sind es die gleichen Schriftzüge. Sechs Scheiben wurden zerkratzt. Inhaber Bernd Penczek hat Anzeige erstattet, sagt: „Die Polizisten wissen, dass er es war.“ Er ist fassungslos, dass der Mann „ohne Konsequenzen sein Unwesen treiben“ könne. Das sei alles nicht normal, meint er kopfschüttelnd.
Familie Brejora setzte große Hoffnungen in den Prozess
„Es kann doch nicht sein, dass die Straftaten von den Behörden sehenden Auges hingenommen werden. Es muss endlich etwas passieren“, fordert auch Carmen Gauf. Sie hat fünf Anzeigen erstattet, doch sämtliche Verfahren wurden eingestellt. Reifen an beiden Autos der Familie wurden zerstochen. Zudem wurden Lack und Fenster zerkratzt. „Die Polizisten sagen mir, ihnen seien die Hände gebunden“, sagt Gauf. Auf 4000 bis 5000 Euro beziffert sie den Schaden. Sie empfindet Verärgerung, aber auch große Sorge. Die Frau war mit ihrem Mann und den drei Kindern (12, 10 und 7 Jahre) mit einem zerstochenen Reifen am Auto nach Hamburg ins Kino gefahren. „Wir haben den Schaden erst dort bemerkt. Nicht auszudenken, wenn uns der Reifen auf der Autobahn bei Tempo 140 weggeflogen wäre.“
Familie Brejora hatte große Hoffnungen in den Prozess gesetzt. „Wir haben uns darauf verlassen, dass es zu einer erheblichen Bestrafung kommt“, sagt der Vater. Seine Frau nickt. „Vor Kurzem ist mir erst so richtig bewusst geworden, dass es nie aufhören wird“, sagt die Mutter. Umziehen komme für sie nicht infrage, auch wenn ihr Leben stark eingeschränkt sei: „Einladungen zu Freunden oder Nachbarn am Abend schlagen wir aus, weil wir uns nicht trauen, die Kinder allein zu Hause zu lassen.“