Ahrensburg. Ulf Thiele fällt seit 1997 Urteile am Amtsgericht Ahrensburg. Warum er hohe Strafen kritisch sieht und welche Fälle ihn bewegt haben.
Wer sich in Ahrensburg und Umgebung etwas hat zu Schulden kommen lassen, saß mit hoher Wahrscheinlichkeit bei ihm auf der Anklagebank: Tausende Fälle hat Ulf Thiele, der mit kurzer Unterbrechung seit 26 Jahren am Amtsgericht Ahrensburg Urteile fällt, während seiner Laufbahn verhandelt. Jetzt geht Stormarns bekanntester Richter in den Ruhestand.
Im Juli 1997 kam Thiele mit 38 Jahren als Straf- und Jugendrichter nach Ahrensburg. Der Hamburger war von Beginn an überzeugt, dass harte Strafen nicht der beste Weg sind, um künftigen Straftaten vorzubeugen – insbesondere bei Jugendlichen. „Es ist die Perspektivlosigkeit und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, die Jugendliche über die Stränge schlagen lässt“, sagte Thiele unserer Zeitung kurz nach seinem Wechsel nach Ahrensburg.
Amtsgericht Ahrensburg: Richter Ulf Thiele hört nach 26 Jahren auf
Der Jurist plädierte dafür, das Geld besser in Schulen und die offene Sozialarbeit zu investieren, statt mehr Polizisten und Jugendrichter einzustellen. Thiele sagt: „Mehr Strafe, umso besser – da glaube ich nicht dran.“
An dieser Überzeugung habe sich nach all den Berufsjahren nichts geändert. „Im Jugendstrafrecht hatte ich es in der Mehrheit der Fälle mit jungen Menschen zu tun, die im Vergleich zu meiner eigenen Jugend sehr schlecht weggekommen sind“, sagt er. Diese Jugendlichen könnten auf den richtigen Weg zurückgeführt werden, wenn man ihnen die positiven Aspekte ihrer Person vor Augen führe.
Thiele ist dafür bekannt, Angeklagten Ratschläge mitzugeben
Darum hat sich der 64-Jährige stets bemüht. Der Richter ist dafür bekannt, seine Urteilsbegründungen mit einem persönlichen Appell an die Angeklagten zu beenden und ihnen Ratschläge und Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben. Das Jugendstrafrecht habe schon per Gesetz eine erzieherische Funktion, sagt Thiele.
Doch auch bei erwachsenen Tätern gehe es ihm nicht vordergründig um das Bestrafen, sondern darum, den Männern und Frauen einen Weg in ein Leben ohne Straftaten aufzuzeigen. „Als Richter befasse ich mich viel mit dem Vergangenen und wie es zu würdigen ist. Da ist es mir wichtig, auch einen Impuls für die Zukunft zu geben“, sagt der 64-Jährige.
Vor seiner Tätigkeit als Richter arbeitete der Hamburger als Anwalt
Besonders der direkte Kontakt zwischen Richter und Angeklagtem während der Hauptverhandlung könne etwas bewirken. „Ich glaube, dass diese Erfahrung etwas mit den Menschen macht.“ Kommunikation ist für Thiele enorm wichtig. „Wenn eine Person auf der Anklagebank sitzt, möchte ich mich diesem Menschen annähern und vermitteln, was an dem Tag schiefgelaufen ist und wie es hätte besser laufen können.“
Vor Stationen an den Amtsgerichten in Pinneberg und Elmshorn und am Landgericht Itzehoe war Thiele zwei Jahre als Rechtsanwalt tätig. „Als Anwalt muss man Dinge vertreten, die die Mandanten möchten und die manchmal zu Entscheidungen führen, die ich nicht für richtig halte“, begründet der Hamburger seinen Wechsel ins Richteramt.
Einen Wechsel ans Landgericht strebte Thiele nie an
Am Amtsgericht hatte es Thiele vor allem mit Kleinkriminellen zu tun. Diebe, Einbrecher, Schläger, Betrüger. Mehr als drei Verhandlungstage in einem Verfahren sind die Ausnahme. Die großen Fälle werden am Landgericht in Lübeck verhandelt. Dennoch habe er nie angestrebt, in die nächsthöhere Instanz zu wechseln, sagt der 64-Jährige.
„Ich führe gern Verhandlungen“, sagt der Hamburger. „Als Beisitzer einer Strafkammer muss man vor allem mitschreiben.“ Überhaupt gebe es am Landgericht viel mehr Formalia zu beachten, das sei nicht sein Ding. „Am Amtsgericht ist es abwechslungsreich genug. Die Vielfalt an Menschen, die ich erlebt habe, hat mich immer wieder fasziniert.“
Richterwahlausschuss verweigerte ihm Posten des Amtsgerichtsdirektors
Ein Posten, den Thiele gern gehabt hätte, ist der des Amtsgerichtsdirektors in Ahrensburg. Seit 2001 war er bereits dessen Stellvertreter. Von Mai 2007 bis zu dessen Auflösung im Zuge einer Justizreform im September 2009 hatte der Hamburger dann den Chefposten am Amtsgericht Bad Oldesloe übernommen und wäre danach gern in gleicher Position zurück in die Schlossstadt gewechselt.
Doch der Richterwahlausschuss des Landtags erteilte dem Juristen eine Absage. Aus politischen Gründen, wie ihm damals mitgeteilt worden sei, sagt Thiele. Offenbar war der meinungsstarke Hamburger der damals regierenden schwarz-roten Koalition zu unbequem.
Der 64-Jährige setzt sich für die Straffreiheit von Cannabis ein
Als Sprecher der Neuen Richtervereinigung Schleswig-Holstein und der Bundesfachgruppe Strafrecht des Verbandes setzte sich der Jurist unter anderem für eine Straffreiheit von Cannabis ein. Alkohol liege bei den Drogen, die Straftaten verursachten, weit vorn. „Es landet selten eine Straftat wegen Körperverletzung vor Gericht, bei der der Täter keinen Alkohol im Blut hatte.“ Wer hingegen wegen Cannabiskonsums oder -besitzes im Gefängnis lande, komme oft erst dadurch in Kontakt mit schwerstkriminellen Kreisen.
Auch an anderer Stelle sieht Thiele im Justizwesen Reformbedarf. Zum Beispiel im Bereich der Ordnungswidrigkeitsverfahren. Denn auch Bagatelldelikte wie Falschparken oder Geschwindigkeitsverstöße landen immer wieder am Amtsgericht, wenn Betroffene gegen einen Bußgeldbescheid vorgehen. „Durch diese Verfahren werden Justizressourcen vergeudet“, sagt der 64-Jährige.
Thiele kritisiert ausufernde Ordnungswidrigkeitsverfahren
Die Prozesse würden von einigen Rechtsanwälten „geradezu schikanös“ betrieben, wenn die Möglichkeit bestehe, bei einer Rechtsschutzversicherung abzukassieren. Ein Streit um 100 Euro Bußgeld könne dann schnell 120 Seiten Prozessakte produzieren, so Thiele.
Mit Sorge betrachtet der 64-Jährige die Verlagerung der Straftaten ins Digitale. „Die Internetkriminalität hat enorm zugenommen.“ Die Kriminellen nutzten die Sehnsüchte der Menschen nach Wohlstand und Zuneigung aus, um an Geld zu gelangen, deshalb sei das Vorgehen so perfide.
Kriminalität ändert sich mit dem Wandel der Gesellschaft
Überraschend sei die Entwicklung nicht. „Die Kriminalität geht immer mit den Veränderungen in der Gesellschaft mit“, sagt Thiele und nennt ein anderes Beispiel: „Als ich als Richter anfing, hatte jeder zweite Junge sein Mofa frisiert und wurde erwischt. Das ist heute kaum noch ein Thema.“
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Überhaupt sei sein Eindruck, dass die Jugendkriminalität in Stormarn zurückgegangen sei. „Das mag mit der besseren ökonomischen Situation zusammenhängen, aber auch der Ausbau der Betreuungsangebote durch die Städte und Gemeinden ist sicherlich ein Faktor“, sagt Thiele. Wer arbeite oder anderweitig beschäftigt sei, habe weniger Zeit, Straftaten zu begehen.
Thiele urteilte über betrügerische Reisebüro-Chefin und Sexualtäter
Gefragt, welche Fälle ihm aus seiner langen Richterlaufbahn besonders im Gedächtnis geblieben sind, muss der 64-Jährige einen Moment lang nachdenken. Unter den vielen Verfahren, die Thiele verhandelt hat, waren einige, die für Schlagzeilen sorgten.
Etwa der Prozess gegen die Inhaberin eines Ahrensburger Reisebüros im Januar 2021, die Kunden um mehr als 74.000 Euro betrogen hatte und im Vorfeld der Verhandlung per internationalem Haftbefehl gesucht wurde, weil sie zweimal nicht vor Gericht erschienen war. Oder jüngst das Verfahren gegen einen 21-Jährigen aus Guinea, der eine Elfjährige auf dem Schulweg in Ahrensburg überfallen haben soll, um sich an dem Mädchen sexuell zu vergehen.
Verfahren gegen zwei Ärzte ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben
„So etwas vergisst man natürlich nicht, aber persönlich bewegt haben mich am meisten die Fälle, in denen Menschen zu Schaden gekommen sind, ohne dass das die Absicht des Täters war“, sagt Thiele. Ein Beispiel: das Verfahren gegen zwei Ärzte der Asklepios Klinik Bad Oldesloe wegen fahrlässiger Tötung Anfang 2012.
Infolge von Behandlungsfehlern nach einem Kaiserschnitt war eine junge Mutter in ihrer Obhut gestorben. Der Prozess wurde letztlich gegen eine Geldauflage eingestellt. „Das ist für die Angehörigen natürlich unbefriedigend“, sagt Thiele.
Ab dem 1. Oktober ist Thiele offiziell im Ruhestand
Ähnlich sei es bei fahrlässig herbeigeführten, tödlichen Verkehrsunfällen. „Da sitzt auf der einen Seite der Angeklagte, der Risiken eingegangen ist, aber niemanden töten wollte. Und auf der anderen Seite sind die Angehörigen der Opfer, die unendliches Leid durch den Verlust erleben und nachvollziehbarerweise eine hohe Straferwartung haben“, sagt der Richter. Doch die habe er wegen des fehlenden Tatvorsatzes in der Regel nicht befriedigen können.
Solche schwierigen Entscheidungen muss Thiele künftig nicht mehr treffen. „Die letzte Hauptverhandlung ist durch, jetzt stehen nur noch einige formale Beschlüsse aus“, sagt der 64-Jährige. Ab 1. Oktober ist Stormarns bekanntester Richter dann offiziell im Ruhestand.