Ahrensburg. 56-Jährige nimmt fremden Fünfjährigen mit in ihre Wohnung. Wie sie ihr Verhalten begründet und warum es eine milde Strafe gab.

Es ist der Alptraum aller Eltern: Das eigene Kind ist plötzlich verschwunden, mitgenommen von einer fremden Person. Genau das mussten die Eltern des kleinen Yasin (alle Namen geändert) am 7. August 2022 erleben. In diesem Fall ging die Sache gut aus: Die Polizei konnte den Fünfjährigen wenige Stunden nach seinem Verschwinden in der Wohnung einer 56-Jährigen in Ahrensburg in ihre Obhut nehmen.

Der Fall wurde am Freitag, 23. Juni, vor dem Amtsgericht Ahrensburg verhandelt. Die Staatsanwaltschaft hatte Ilona K. Kindesentziehung vorgeworfen. Die 56-Jährige habe den Jungen am Abend des 7. August im Verkaufsraum des Lebensmittelgeschäftes, das dessen Vater in Ahrensburg betrieb, oder auf dem Bürgersteig davor – das habe sich nicht eindeutig rekonstruieren lassen – angesprochen und mit in ihre einige Hundert Meter entfernt gelegene Wohnung genommen.

Prozess in Ahrensburg wegen Kindesentführung: Angeklagte verteidigt sich

Die Eltern verständigten die Polizei, als sie das Fehlen des Kindes bemerkten. Von etwa 19.15 bis 21.30 Uhr soll Yasin bei der Frau gewesen sein, ehe ihn die Polizei entdeckte und nach knapp zwei Stunden zu seinem Vater und seiner Mutter zurückbrachte.

Die 56-Jährige erschien vor Gericht in Begleitung eines Dolmetschers. Die gebürtige Polin, die seit 2007 in Deutschland lebt, spricht nur gebrochen Deutsch. Gleich zu Beginn räumte sie die Tat ein, gab zu, dass sie „falsch reagiert“ habe. Gleichzeitig verteidigte die Ahrensburgerin ihr Handeln.

Der Fünfjährige wirkte auf die Angeklagte gelangweilt und unglücklich

Durch regelmäßige Einkäufe in dem Geschäft seines Vaters kenne sie Yasin seit zwei Jahren. „Er saß meistens auf einem Sessel an der Kasse“, sagte sie. Oft sei ihr aufgefallen, dass der Junge gelangweilt und unglücklich wirkte. Die Eltern hätten das Kind vernachlässigt und der Vater sei ihm gegenüber mehrfach aggressiv geworden, behauptete K.

Einmal habe sie mit Zustimmung des Vaters mit Yasin im Geschäft gemalt, dazu Buntstifte mitgebracht. Das sei etwa ein Jahr vor dem Vorfall gewesen. Am 7. August 2022 sei sie auf dem Heimweg gewesen, als sie das Kind an der Straße habe allein spielen sehen. „Er hat an einem Baum im Dreck gewühlt, war barfuß und sah durstig aus“, behauptete Ilona K. Sie habe gefragt, ob er etwas Trinken wolle. Yasin habe genickt, weshalb sie ihn mit in ihre Wohnung genommen und ihm ein Glas Wasser gegeben habe.

Telefonnummer führte Polizei auf die Spur der 56-Jährigen

Danach habe der Fünfjährige mit Buntstiften gemalt. Auf die Frage von Richter Said Evora, was sie anschließend mit dem Jungen zu tun gedacht habe, hatte K. keine Antwort. Sie habe darüber nachgedacht, ihn zur Polizei zu bringen, sei aber „erschöpft und überfordert“ gewesen. Sie habe intuitiv gehandelt, als sie das Kind gesehen habe. Insgesamt sei der Fünfjährige „höchstens eine halbe Stunde“ bei ihr gewesen.

Die Polizei stellt das Geschehen anders dar. Nach Aussage der Eltern habe Yasin im Verkaufsraum gesessen, als er verschwand. Um 20.30 Uhr meldete der Vater den Jungen demnach als vermisst. „Gefunden werden konnte das Kind durch eine Telefonnummer, die die Angeklagte früher einmal bei den Eltern angegeben hatte“, so ein Beamter. Anhand dieser habe man die Wohnadresse von Ilona K. herausfinden können.

Polizist: „In der Wohnung waren überall Dreck und irgendwelche Geräte“

Vor Ort habe zunächst trotz minutenlangen Klingelns und Klopfens niemand die Tür geöffnet. Die Wohnung selbst beschreibt der Beamte als „Messie-Wohnung, in der überall Dreck und irgendwelche Geräte herumlagen“. Auch Strom habe es nicht gegeben. „Es war komplett dunkel.“ Yasin sei verängstigt gewesen und habe sofort die Hand einer Beamtin fest ergriffen. Für eine Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern gebe es keine Anhaltspunkte.

Die 56-Jährige, die von Sozialhilfe lebt, blieb dennoch bei ihrer Behauptung. „Anstatt mich anzuklagen, sollten Sie lieber schauen, was in dieser Familie geschieht, das ist nicht normal“, sagte sie. Sie habe „das Kind retten“ wollen. Auch wenn K. während der Verhandlung phasenweise überfordert wirkte, erkannte das Gericht keine psychische Beeinträchtigung bei der Ahrensburgerin.

Die 56-Jährige kommt mit einer Bewährungsstrafe davon

Das Urteil lautete letztlich sechs Monate Freiheitsstrafe mit Bewährung. „Sie haben den Jungen in eine Situation gebracht, die man dem eigenen Kind niemals zumuten wollen würde“, so Richter Evora. Gleichzeitig wirke sich aber strafmildernd aus, dass K. die Tat gestanden und Reue gezeigt habe. Zudem sei sie nicht vorbestraft. „Wenn Sie künftig den Eindruck haben, dass ein Kind Hilfe benötigt, informieren Sie das Jugendamt oder die Polizei“, gab er der 56-Jährigen mit auf den Weg.