Witzhave. Linksextremisten der „Antiimperialistischen Zellen“ begehen in 90er Jahren Anschläge. Im Februar 1996 endet ihre Flucht in Stormarn.

Es ist ein grauer Wintertag, an dem das beschauliche 1600-Einwohner-Dorf Witzhave deutschlandweite Bekanntheit erlangt. Der Anlass ist wahrlich spektakulär: In der Nacht zum 26. Februar 1996, einem wolkenverhangenen Montag mit bis zu sechs Grad Celsius, nehmen Fahnder auf der Möllner Landstraße zwei 29 Jahre alte Terroristen der linksextremen „Antiimperialistischen Zellen“ (AIZ) fest. Die Ortsdurchfahrt wird bis in den späten Nachmittag gesperrt, weil die beiden Männer behaupten, dass ihr Auto voller Sprengstoff sei. Das Kreisarchiv greift den Kriminalfall jetzt in seiner Serie „Tatort Stormarn“ auf.

Abends berichtet die „Tagesschau“ im Fernsehen aus Witzhave. Die Terroristen waren nach einer längeren Verfolgung gestellt worden, berichtet die Ahrensburger Zeitung, die im Kreisarchiv gesammelt wurde. „Offenbar führte die Strecke von Pinneberg über Hamburg nach Stormarn“, heißt es. Ermittler der Landeskriminalämter Hamburg und Kiel, Stormarner Polizisten und auch ein Videowagen der Autobahnpolizei seien im Einsatz gewesen.

Stormarner Polizisten entdecken Terroristen-Auto in Witzhave

Die Verfolger hatten den weinroten VW Passat-Kombi mit PI-Kennzeichen aus den Augen verloren. Doch Stormarner Polizisten entdecken das Auto auf dem Weg in Richtung A-24-Zufahrt. Sie stoppen es und nehmen die Insassen fest. Sie kommen nach Reinbek, werden anschließend von Fahndern des Bundeskriminalamts in Hamburg verhört.

Ein Trittauer Abschleppunternehmer bringt den VW Passat der Terroristen zur Untersuchung ins Bundeskriminalamt Wiesbaden.
Ein Trittauer Abschleppunternehmer bringt den VW Passat der Terroristen zur Untersuchung ins Bundeskriminalamt Wiesbaden. © Kreisarchiv Stormarn

Wegen der Sprengstoffdrohung wird die Landstraße um 2.41 Uhr in der Nacht abgeriegelt. Spezialisten in Schutzkleidung nehmen den VW von außen in Augenschein. Der Munitionsräumdienst aus Groß Nordsee bei Kiel rückt mit einem ferngesteuerten Roboter an. Das Gerät wird ebenso wenig fündig wie ein Sprengstoffhund aus Pinneberg. „Weil unter der Straße eine Hauptleitung der Gaswerke verläuft, verzögerten sich die Arbeiten weiter. Techniker stellten zunächst das Gas ab“, ist in der Lokalbeilade des Hamburger Abendblattes zu lesen.

Fernsehteam fliegt mit Hubschrauber über gesperrte Straße – Einsatzabbruch

Zudem muss der Einsatz unterbrochen werden, weil ein Fernsehteam mit einem gemieteten Hubschrauber zu dicht über das Auto fliegt. Schließlich lädt ein Trittauer Abschleppunternehmer den Passat auf, bringt den Wagen für weitere Untersuchungen ins Bundeskriminalamt nach Wiesbaden. Gegen 14 Uhr ist der Spuk vorbei. Die direkten Anwohner trauen sich aus ihren Häusern – und Witzhave ist nach zehn Stunden Aufregung wieder ein beschauliches Dorf.

Die beiden Terroristen waren zuvor über Monate rund um die Uhr observiert worden. Es wurde vermutet, dass sie kurz vor Witzhave einen Sack mit 3,5 Kilogramm Schwarzpulver aus dem Fenster geworfen hatten, das sie zuvor aus Erddepots in Berlin geholt hatten. Deshalb suchten Beamte der Bereitschaftspolizei aus Eutin später die Feldmark am Dorf ab, fanden aber nichts. Wie der „Spiegel“ im März 1996 berichtete, bestand ohnehin keine Gefahr mehr: „Am 10. und 11. Februar wurden (sie) in der Nähe von Berlin beobachtet, wie sie zwei Erddepots aushoben und darin etwas verstauten. Als sie weg waren, tauschten Fahnder den Inhalt – 3,5 Kilogramm Schwarzpulver – gegen harmlose Chemikalien aus.“

Vorwurf: Neun Anschläge auf Politiker und Gebäude verübt

Weil die Verfolger den roten VW Passat und seine beiden Insassen immer wieder aus den Augen verloren, spickten die BKA-Spezialisten das Auto laut „Spiegel“ schließlich mit damals hochmoderner Elektronik: „Sie brachten am Wagen ein kleines Gerät an, das mithilfe von Satelliten ständig den genauen Standort des Fahrzeugs speichern und bei Bedarf melden kann. Das technische Wunderding, von amerikanischen GIs im Golfkrieg erprobt, kostete weit über 100.000 Mark.“

Die „Antiimperialistischen Zellen“ sollen innerhalb von drei Jahren neun Anschläge auf Politiker und Gebäude verübt haben. Die beiden gefassten Mitglieder gingen seit ihrer Kindheit gemeinsame Wege, machten 1986 in Halstenbek (Kreis Pinneberg) Einser-Abitur, studierten dann Chemie und Physik. Einer geriet 1991 dadurch ins Visier der Staatsschützer, dass es bei einer Totensonntagsfeier die Nationalhymne mit einer Fanfare übertönt hatte, schrieb der „Spiegel“.

Die beiden Täter haben ihre langen Haftstrafen abgesessen

1992 schnitten sie vier Benzinschläuche an Zapfsäulen durch, um gegen den Shell-Konzern und seine Belieferung des Apartheidregimes zu demonstrieren. Die AIZ verübten im November 1992 einen Brandanschlag auf das Rechtshaus der Universität Hamburg und im Dezember 1995 einen Bombenanschlag auf das peruanische Honorarkonsulat in Düsseldorf. „Mehreren Politikern wurden Bomben vor die Tür gelegt, die jedoch nicht zündeten“, so der „Spiegel“. Bei der Verhaftung standen die Studenten im Verdacht, ein Attentat gegen den Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten Freimut Duve zu planen.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte die beiden wegen Sachbeschädigung und Landfriedensbruchs vorbestraften Schulfreunde 1999. Ein Täter bekam wegen vierfachen versuchten Mordes und Sprengstoffverbrechen 13 Jahre Haft. Er konvertierte zum Islam, ließ sich nach seiner Haftentlassung 2008 in Dortmund nieder. Der zweite Täter musste nach einem Teilgeständnis für neun Jahre ins Gefängnis.