Bargteheide. Jugendliche fragen Zeitzeugen: Geschichtswerkstatt organisiert Gespräch über den Alltag in den Jahren 1933 bis 1949.

Der Tag liegt 80 Jahre zurück. Klaus Andresen, langjähriger Vorsitzender des Verschönerungsvereins Bargteheide (VVB) und Leiter ungezählter historischer Stadtrundgänge, hat ihn trotzdem noch frisch in Erinnerung – allerdings in schmerzhafter. „Da habe ich mir einen Arm ausgekugelt und musste eine Schlaufe tragen“, sagt der heute 91-Jährige über das Sportfest vom Jungvolk, einer Jugendorganisation der Hitlerjugend.

Jener Tag im Sommer 1942 ist ein kleiner Teil der Veranstaltung Bargteheide 1933–1949: Jugendliche fragen Zeitzeugen“ am Mittwoch, 11. Januar, im Kleinen Theater. Klaus Andresen hat noch ein Foto, das die zehn Jahre alten Jungen aus dem Dorf am Alten Sportplatz zeigt. Die Kinder sind einheitlich gekleidet, tragen Manchesterhosen, braune Hemden, ein schwarzes Halstuch mit braunem Lederknoten.

Bargteheider wollen vom Alltagsleben in der Nazizeit berichten

Die Frage, warum seine Freunde und er in die Organisation eingetreten seien, kann Klaus Andresen ohne zu zögern beantworten. „Das war gesetzlich vorgeschrieben“, sagt er. Hitlers NSDAP hatte eine Zwangsmitgliedschaft festgelegt, um schon kleine Kinder indoktrinieren zu können. In Pionierzug, Nachrichtenzug oder Fanfarenzug wurden die Zehn- bis 14-Jährigen auf dem Übergang in die Hitlerjugend vorbereitet.

Mitorganisatoren der Veranstaltung „Bargteheide 1933–1949: Jugendliche fragen Zeitzeugen“: Birgit Schröder (Verein „Bunte Vielfalt
Mitorganisatoren der Veranstaltung „Bargteheide 1933–1949: Jugendliche fragen Zeitzeugen“: Birgit Schröder (Verein „Bunte Vielfalt", v. l.), Historikerin Ruth Kastner, Zeitzeuge Klaus Andresen, Schüler Jonas Bewig. © Harald Klix

Die Geschichtswerkstatt Bargteheide möchte mit dem Zeitzeugengespräch das Leben der Menschen in der Kriegs- und Nachkriegszeit abbilden. „Es geht nicht um Gesetze, Daten und Erlasse, sondern um die Alltagsgeschichten“, sagt die Historikerin Ruth Kastner, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft. Man wolle 90 Jahre nach der Machtübernahme der Nazis die letzte Chance nutzen, Menschen zuzuhören, die jene Zeit miterlebt haben. „Wir möchten niemanden bloßstellen, sondern sind dankbar für alle, die bei diesem Projekt mitmachen und sich auf die Bühne trauen“, sagt Kastner.

Zu den rund 3000 Bargteheidern kamen bis zu 4000 Flüchtlinge

So wie der 1931 geborene Klaus Andresen, der in historischen Büchern durchaus eine politische Beeinflussung beobachtet. „Eine objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht“, sagt er. „Die Tendenz geht zur Schwarz-Weiß-Schreibung, und das ist oft nicht richtig. Es gibt die vielen Grautöne.“ Die wolle man im Zeitzeugengespräch aufzeigen. Und auch in Bargteheide sind etliche Unterlagen spurlos verschwunden, darunter die Protokolle von sämtlichen Gemeindevertretersitzungen von 1933 bis 1945.

Rund 3000 Einwohner hatte der Ort zu der Zeit vor 90 Jahren, als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde und die Nazis an die Macht kamen. Die Zahl stieg nach Kriegsende 1945 innerhalb weniger Wochen durch ausgebombte Hamburger und Flüchtlinge aus dem Osten auf bis zu 7000. „Es gab eine zusätzliche Holzhaussiedlung am Struhbarg und zwei Baracken, die große Mehrheit musste in den vorhandenen Häusern und Bauernhöfen untergebracht werden“, sagt Andresen. Auch den später berühmten Schriftsteller Siegfried Lenz verschlug es damals nach Bargteheide: Er spielte mit den einheimischen Jugendlichen Handball.

Für rund 900 britische Soldaten wurden Häuser requiriert

Zugesagt für den Gesprächsabend haben außerdem Luise Hemsen (geborene Pöhlsen, Jahrgang 1932) und Gerda Lohse (Jahrgang 1936). Sie berichten vom Überleben in Kriegszeiten, der britischen Besatzung und dem Wiederaufbau. Für rund 900 britische Soldaten waren extra Häuser requiriert worden. Erinnerungen weiterer Zeitzeugen – darunter Jonny Fahrenkrug (Hotel Jägerstube) – werden als Videoaufnahmen eingespielt.

Den Fragenkatalog haben Jugendliche aus dem zwölften und 13. Jahrgang der Anne-Frank-Schule formuliert, die sich im Geschichtsprofil mit der Zeit befasst haben. „Dieses Gespräch ist für uns eine einmalige und gleichzeitig tolle Möglichkeit, mit einer so entfernten Generation in den direkten Austausch zu treten“, sagt Jonas Bewig (18). Etliche Großeltern hätten bereits angekündigt, zu dem Abend mitzukommen.

Verein „Bunte Vielfalt“ engagiert sich auch in dem Projekt

Die Arbeitsgemeinschaft Geschichtswerkstatt Bargteheide hatte sich im April 2022 erstmals zusammengefunden. Zu den Initiatorinnen zählt neben Ruth Kastner auch Birgit Schröder, zweite Vorsitzende des Vereins „Bunte Vielfalt“, der aktuell Geflüchtete betreut. „Die unterschiedlichen Erfahrungen der Bürger im Umgang mit Flüchtlingen damals und heute ist schon erstaunlich“, sagt sie.

Birgit Schröder weiß, wie groß die Hemmschwelle vieler älterer Menschen ist, über die Vergangenheit zu reden. „Vor allem den Männern, die im Krieg waren, ist das schwergefallen“, sagt sie. So habe einzig ihre Schwiegermutter häufiger von der Flucht erzählt.

Stadtarchiv hat so gut wie keine Dokumente über die Zeit

Im Bargteheider Stadtarchiv gibt es bislang so gut wie keine Dokumente über die 1930er- und 1940er-Jahre. Die Geschichtswerkstatt hofft nun, dass Dachbodenfunde wie Tagebücher, Fotos oder Briefe abgegeben und nicht weggeworfen werden. Die Gruppe lädt interessierte Bürger zudem zum Mitmachen ein.

Zu erzählen gibt es ohne Zweifel viel. Denn schon im 2001 erschienenen Buch „Bargteheide – vom Bauerndorf zur modernen Stadt“ schrieb ein Zeitzeuge über seinen Alltag als 14 Jahre altes Flüchtlingskind: „Trotz all dieser Widrigkeiten war das Leben im November 1945 für Jugendliche in Bargteheide ein großes Abenteuer, denn jeder Tag brachte neue Ereignisse, Veränderungen und viel Arbeit, denn man musste überleben. Auf jeden Fall gab es eines nicht – Langeweile!“

Die Veranstaltung „Bargteheide in den Jahren 1933–1949: Jugendliche fragen, Zeitzeugen berichten“ beginnt am Mittwoch, 11. Januar, um 18 Uhr im Kleinen Theater (Hamburger Straße 3). Die Geschichtswerkstatt Bargteheide organisiert den Abend mit Förderung des Bundesprogramms „Partnerschaft für Demokratie“. Der Eintritt ist frei.

Aus dem dörflichen Alltag im Zweiten Weltkrieg und den ersten Jahren danach berichten unter anderen Klaus Andresen (Jahrgang 1931), Luise Hemsen (geborene Pöhlsen, Jahrgang 1932) und Gerda Lohse (Jahrgang 1936). Schüler aus dem Geschichtsprofil (Klasse 12 und 13) der Anne-Frank-Schule stellen ihnen Fragen.

Moderator Norbert Ohl, Vorstandsmitglied im Theaterverein, leitet die Debatte. Die Zuhörer können in der Pause ebenfalls schriftlich Fragen abgeben, die im zweiten Teil des Abends zur Sprache kommen.