Westerland. Insulaner wählten 1951 einen Kriegsverbrecher zum Bürgermeister – wie konnte das passieren? Auf den Spuren des „Henkers von Warschau“.
Vor dem Rathaus erzählt ein kleiner goldener Stein Geschichte – eine düstere Geschichte, eine braune. Der Stolpersteinerinnert an Nikolaus Ehlers, geboren am 24. September 1907 in Westerland. Der Sozialdemokrat wurde wegen kritischer Äußerungen 1940 denunziert, verhaftet und kam in Gestapohaft, 1942 dann ins KZ Sachsenhausen. Die KZ-Haft überlebte er nur knapp.
Zwölf Jahre später musste Ehlers spüren, dass die neue Bundesrepublik ein braunes Erbe in die neue Zeit hinübergerettet hatte. 1957 kamen Hinweise auf, wonach der damalige Westerländer Bürgermeister Heinz Reinefarth als SS-Kommandant an der blutigen Niederschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt war.
Sylt: Film führt zu Kriegsverbrecher Reinefarth
Der spektakuläre DEFA-Dokumentarfilm „Urlaub auf Sylt“ von Annelie und Andrew Thorndike hatte der Welt ein anderes Bild des geschätzten Bürgermeisters gezeigt – die beiden Filmemacher hatten vorgegeben, einen Film über die Schönheiten der Insel zu drehen, in Wahrheit wollten sie ihn als Kriegsverbrecher von Warschau enttarnen. Der Sozialdemokrat Ehlers verlangte daraufhin eine Beurlaubung Reinefarths, stieß auf taube Ohren und trat schließlich aus Protest als Fraktionsvorsitzender und Stadtrat in Westerland zurück.
Der Aufstieg von Heinz Reinefarth zum geschätzten Landespolitiker ist ein großer Skandal der Nachkriegszeit. Denn mit dem gebürtigen Pommern machte ein SS-Gruppenführer, Generalleutnant der Waffen-SS und Kriegsverbrecher Karriere: Für die Vertriebenenpartie GB/BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) zog er sogar 1958 in den Kieler Landtag ein.
„Henker“ Reinefarth wurde frei gesprochen
Reinefarths Verstrickung in die brutale Niederschlagung des Warschauer Aufstands spielte dabei kaum eine Rolle, viele wollten davon nichts wissen: Unter Reinefarths Befehl wurden zigtausende Zivilisten 1944 in Warschau erschossen. Die Nazis zeichneten ihn später mit dem Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes aus, in die Geschichte aber ging er als „Der Schlächter von Warschau“, als „Henker von Warschau“ ein. Nach dem Krieg forderten die Polen seine Auslieferung – vergeblich.
Reinefarth konnte sich der Strafverfolgung entziehen, wohl auch, weil er den Amerikanern geheimdienstliche Informationen lieferte. 1949 sprach ihn ein Bergedorfer Gericht im Entnazifizierungsverfahren von jeder Schuld frei; ein Jahr später kam der damals 46-Jährige als Flüchtlingsbeauftragter nach Sylt, wo seine Schwiegereltern seit 1927 ein Sommerhaus besaß.
Sylter mochten ihren Bürgermeister Reinefarth
Anders als andere SS-Täter versteckte sich Reinefarth nicht. Sein höfliches und bescheidenes Auftreten und sein Einsatz für die zahlreichen Geflüchteten gefielen den Syltern. 1951 wählten ihn die Insulaner zum Bürgermeister – ein Amt, das er zwölf Jahren bis 1963 inne hatte.
Auch die Enthüllungen nach 1957 konnten ihm nichts anhaben. „Die Insel war damals voller Bundeswehr – und die war geprägt von Männern des Dritten Reichs“, sagt die Sylt-Kennerin Silke von Bremen, die Führungen „Auf den Spuren des Dritten Reiches“ in Westerland anbietet. „Reinefarth war ein effizienter Verwalter des Mordens in Warschau. Und hier war er auch ein guter Verwalter.“
Der gebürtige Insulaner Hans Jessel erinnert sich daran, dass die Vergangenheit ihres Bürgermeisters kein Geheimnis war: „Das wussten alle und war auch Thema, als ich Kind war“, sagt der 66-Jährige. Allerdings war das ganze Ausmaß seiner Kriegsverbrechen beim Warschauer Aufstand lange nicht bekannt. Zudem wurde der frühere SS-Mann zwar zweimal angeklagt, aber auch zweimal wieder freigesprochen. „Das war immer das große Argument.“
Die Untaten verschwanden im Dunkel
Es gab nur wenige, die nachgebohrt hatten. Einer davon war Ernst-Wilhelm Stojan. „Die Vergangenheit Reinefarths war in der Bevölkerung aber auch in der Politik ein finsteres Kapitel, zu dem man sich nicht äußern oder positionieren wollte“, erinnert sich der 2018 verstorbene SPD-Politiker in seinem Buch. „Man zog sich überall darauf zurück, dass er nicht verurteilt worden sei.“ Als Stojan in den Siebzigerjahren die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besuchte, klärten ihn die Mitarbeiter in Jerusalem über die Vergehen des „Henkers von Warschau“ auf.
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Doch in der Heimat verschwanden die Untaten im Dunkel: „Man hat nicht groß über das Thema gesprochen. Es gibt Dinge, die verschwinden“, so von Bremen. Als Reinefarth 1979 starb, schreibt die Stadtverwaltung im Nachruf: „Sein erfolgreiches Wirken für die Stadt Westerland wird unvergessen bleiben.“ Die Vorgeschichte, sie schien vergessen.
Reinefarth: Mail aus Warschau ändert alles
Erst durch eine Mail aus Warschau an die Westerländer Pastorin Anja Lochner 2013 kam die Vergangenheit wieder in die Gegenwart. Und brach das Schweigen. Zu dieser Zeit hatte der Schweizer Historiker Philipp Marti seine Dissertation zum Fall Reinefarth veröffentlicht. „Es gab viele, die gesagt haben, das ist doch 70 Jahre her“, erinnert sich Silke von Bremen. Aber noch mehr stellten nun Fragen, etwa ein Arbeitskreis zur Aufarbeitung in Westerland.
Eine Ausstellung im Landesarchiv im Schleswiger Prinzenpalais zeigt bei 31. März die Ausstellung „Heinz Reinefarth: Vom NS-Kriegsverbrecher zum Landtagsabgeordneten“. Sie dokumentiert hundert Bilder, die während des Ermittlungsverfahrens gegen Reinefarth von der Staatsanwaltschaft Flensburg gesammelt wurden und das Leid der Zivilbevölkerung dokumentieren. Trotzdem wurden die Ermittlungen 1966 eingestellt, weil Reinefarth keine direkte Verantwortung für die Massenmorde nachgewiesen werden konnte. Die Wanderausstellung wird ergänzt durch eine Dokumentation über Reinefarths Karriere im Nachkriegsdeutschland.
„Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern“
„Man kann nur hoffen, dass diese Ausstellung auch noch einmal nach Sylt kommt“, sagt von Bremen. „Die Aufarbeitung des Dritten Reiches endet ja nicht an einer Mahntafel am Rathaus.“ Die Sylt-Kennerin verweist in diesem Zusammenhang auf fünf dokumentierte Todesurteile des Kriegsgerichts der Marine, die an jungen Wehrmachtssoldaten vollstreckt wurden – ein Verbrechen, für das sie einen Gedenkstein initiiert hat.
Seit 2014, dem 70. Jahrestages des Warschauer Aufstandes erinnert auch eine Gedenktafel an den Bürgermeister, der ein Mörder war. Die Tafel endet mit den Sätzen: „Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland, war als Kommandeur einer Kampfgruppe maßgeblich mitverantwortlich für dieses Verbrechen. Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern des Warschauer Aufstandes und hoffen auf Versöhnung.“